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Gewalt und Oppression während der anni di piombo in Literatur und Film

Die innenpolitischen Ereignisse in Italien zwischen den späten 1960 und frühen 1980er Jahren, die terroristischen Aktivitäten der sogenannten anni di piombo, gelten nach wie vor als nationales Trauma, das noch nicht zur Gänze aufgearbeitet ist. Unklar ist immer noch, welche Taten tatsächlich welcher Gruppierung (links oder rechts orientiert) zuzuordnen sind und welche Rolle machthabende Politiker und organisiertes Verbrechen in den diversen Anschlägen gespielt haben. Die italienische Kultur hat sich in einer Vielzahl von Werken versucht auszudrücken, was sich in einem umfangreichen großes Korpus an v.a. Texten (fiktionaler wie nicht fiktionaler Natur) und Filmen zu diesem Thema widerspiegelt. Vorliegender Beitrag analysiert in diesem Zusammenhang die Figur des rechten und linken Terroristen sowie die ambivalente Rolle des Staates anhand zweier Romane von Sebastiano Vassalli (Abitare il vento und L'arrivo della lozione) und dem Film Il divo von Paolo Sorrentino.

1. Einleitung

Der Fanatismus in Verbindung mit Politik und Gesellschaft ist wohl in kaum einer Zeit der jüngeren italienischen Vergangenheit so stark wie zwischen den späten 1960ern und frühen 1980ern, den sogenannten anni di piombo: die Phase der politischen und sozialen Unruhen, die in einem linken und rechten Terrorismus münden und in deren Zusammenhang das bewusste Eingreifen von Seiten staatlicher bzw. staatsnaher Organisationen bis heute nicht zur Gänze geklärt ist (cf. Feldbauer 2000). Die Statistiken belegen für den Zeitraum zwischen 1968 und 1988 nicht weniger als 14.589 "Vorfälle", 419 Tote und Tausende Verletzte (cf. Waldmann 1998, 23); insgesamt wurden 597 terroristische Gruppierungen (unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung) gezählt (cf. Antonello/O'Leary 2009, 1). Der Begriff anni di piombo ist "inspiriert" vom Filmtitel Die bleierne Zeit von Margarethe von Trotta aus dem Jahre 1981. Von Trottas Film (der 1981 auch bei den Filmfestspielen in Venedig vorgeführt wurde) zeigt die Reaktionen zweier Schwestern auf die deutsche faschistische Vergangenheit, auf die Gräueltaten des Vietnamkriegs und auf zeitgenössische soziale Ungleichgewichte: Die eine wird engagierte Journalistin, die andere aktive Terroristin und Mitbegründerin der RAF. Die italienische Übersetzung des Filmtitels wurde alsbald als luogo comune sowohl im journalistischen und akademischen Diskurs als auch in der Alltagssprache für die Zeit des italienischen Terrorismus verwendet (cf. O'Leary 2011, 8). Anni di piombo, d.h. die Zeit fanatischer anti-staatlicher Bewegungen und Tendenzen, sind demnach kein spezifisch italienisches Phänomen, sondern beschreiben allgemeinere, europäische Tendenzen der Radikalisierung und Fanatisierung der Politik und der Gesellschaft ab den 1960er Jahren, die sich unter anderem auch als Reaktion der Nachkriegsgeneration auf die (noch) nicht ausreichend aufgearbeiteten gewaltvollen Ereignisse rund um den Zweiten Weltkrieg (durch die Elterngeneration [der Terroristen]) erklären lassen.

 

Vid. 1. Kinotrailer zu Trottas Die bleierne Zeit (externer YouTube-link)

 

Der Terrorismus- sowie der Terror-Begriff haben eine Vielzahl von Wissenschaftlern und Disziplinen dazu bewegt, geeignete Definitionen und Kategorisierungen zu finden, und dies verstärkt seit der Häufung terroristischer Anschläge in Europa und den USA nach dem 11. September 2001.[1] Für unseren Zusammenhang sollen hier aber ideologische Fragestellungen und wertende Zugänge ausgeklammert werden und stattdessen auf den systemtheoretischen Zugang Dirk Baeckers verwiesen werden. Er unterscheidet zwischen Terror, als Erzeugung von Schrecken durch die Ausübung physischer Gewalt, und Terrorismus, als den Einsatz der "Waffe Terror" von oder gegen den Staat (Baecker 2017, 1). Terror ist damit für Baecker ein Instrument der Ausübung von Macht und geht in Verbindung mit Politik auf die Französische Revolution und die Jahre 1793/94 des grande terreur unter Robbespierre zurück (cf. Simon 2002, 13). Terrorismus hingegen ist "eine Form der Auseinandersetzung über das Gewaltmonopol des Staates" (Baecker 2017, 1). Der durch den Terrorismus ausgelöste Schrecken löst eine Schockreaktion, eine Starre aus und zielt folglich darauf ab, die Handlungsfähigkeit des "Gegners" zu mindern oder im besten Fall überhaupt zu lähmen (cf. Simon 2002, 14). Baecker sieht Terrorismus als "Logik einer funktional differenzierten Gesellschaft, in der zuvor latent gehaltene Wechselwirkungen manifest werden und kein Akteur sich der Kontrolle durch Rückkoppelungen entziehen kann" (2017, 1). Terroristische Aktionen bedürfen folglich einer (medialen) Wahrnehmung: "Terrorismus kommuniziert die Gewalt selbst: als Schrecken, der mit Kommunikation rechnet (Massenmedien) und auf weitere Kommunikation zielt (Politik)" (ibid., 1s.). Die Rolle der Medien betont auch Jean Baudrillard aus seiner medienkritischen Perspektive. Weniger als durch den Terror instrumentalisiert, agieren für ihn die Medien autonom und stellen sich demnach teilweise freiwillig in den Dienst des Terrorismus. Auffallend ist in Baudrillards zeitkritischer Analyse der Ereignisse rund um den 11. September die Betonung des inhärent "anti-realen" Charakters des terroristischen Ereignisses, was durch die Medien noch potenziert wird. Er spricht von einem "Theater der Grausamkeit", bei dem "[d]as Spektakel des Terrorismus uns den Terrorismus als Spektakel auf[zwingt]" (Baudrillard 2002b, 75).

Nun zur konkreten Terrorismus-generierenden Situation in Italien: Den politischen Hinter- und Beweggrund für die terroristischen Anschläge in Italien bildet zu einem wesentlichen Teil die Politik der ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1992 regierenden rechts-konservativen Democrazia Cristiana (DC). Mit ihrer wirtschaftsliberalen Politik, dem Stärken des Unternehmertums und dem Ignorieren der dringenden Anliegen der Arbeiterschaft, verbunden mit der konsequenten Ausgrenzung linker Parteien, v.a. der kommunistischen Partei (PCI), aus den Regierungsgeschäften treiben sie eine Polarisierung in der Gesellschaft voran und bereiten einen fruchtbaren Boden für besonders nachhaltige Studenten- und Arbeiterproteste ab den späten 1960er Jahren. Im Umfeld dieser Proteste formieren sich im Weiteren eine Reihe von radikalen linken, aber auch rechten Gruppierungen, die die Proteste anfangs weiter anheizen und ihre Anliegen mit gewalttätigen Aktionen (Entführungen, Bombenanschlägen etc.) durchsetzen wollen: Potere operaio, Lotta continua, Prima linea, Brigate rosse oder Ordine nero.

 

Abb. 1. Studenten- und Arbeiterdemonstration 1968

 

Vor allem die Brigate rosse (BR) antworten auf die restriktive Ausgrenzungspolitik der DC und ihrer mangelhaften Sozialpolitik mit zahlreichen blutigen Terroranschläge und werden daher heute noch als Synonym für den italienischen Terror der anni di piombo gesehen. Ihr "Wirken" kulminiert in der am 16. März 1978 beginnenden 55-tägigen Entführung und Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten Aldo Moro, der, als Teil des gemäßigten Parteiflügels der DC, sich gemeinsam mit dem Vorsitzenden der kommunistischen Partei Enrico Berlinguer für den sogenannten compromesso storico stark machte. Die Ineffizienz der Verhandlungen schließlich von Seiten der Regierung mit den Brigate rosse (die im Gegenzug für die Freilassung Aldo Moros die Freilassung inhaftierter Mitglieder ihrer Gruppierung forderten) und der Unwille, sich auf Gespräche, geschweige denn einen Kompromiss einzulassen, geben bis heute Rätsel auf. Im Zusammenhang mit den Ereignissen und Anschlägen jener Zeit kursieren eine Reihe von alternativen Theorien oder überhaupt "Verschwörungstheorien" (zusammengefasst mit dem Begriff dietrologia) (cf. Antonello/O'Leary 2009, 6), ganz besonders ist dies aber der Fall in Bezug auf den caso Moro. Demnach zirkulieren bis heute Stimmen, nach denen Parteikollegen Moros, die wiederum mit einer Unterorganisation des amerikanischen Geheimdienstes CIA, der Nato und des britischen MI6, Il gladio, so wie der Freimaurerloge Propaganda Due (kurz P2) zusammenarbeiteten bzw. deren Mitglieder waren, dafür gesorgt haben, dass sich Mitglieder der eigenen Reihen unter die Brigate rosse mischten und dazu beitrugen, dass der allzu gemäßigte Aldo Moro ermordet wurde. Das Prinzip, dass Teile des Geheimdienstes und/oder Soldaten des Il gladio in die linken Terrorgruppierungen infiltriert werden und so deren Anschläge gezielt steuern bzw. dass von rechten Gruppierungen begangene Anschläge (z.B. Ordine nuovo) linken Gruppierungen zur Last gelegt werden, wird seit 1991 als strategia della tensione ("Prinzip der Spannung") bezeichnet. Ziel ist, dass der Staat durch eine Forcierung von terroristischen Aktivitäten Angst in der Bevölkerung schürt und fördert, um eine Legitimierung für eine stärkere staatliche Kontrolle zu erhalten. Die repressive Polizeigewalt, die "in Zivil unter weitgehender Befreiung von bürokratischer oder richterlicher Kontrolle ihrem Handwerk nachging", wird exemplarisch von der Person Dalla Chiesa vertreten, dessen öffentliche Wahrnehmung zwischen der eines "finsteren Polizeischergen" und der des "heiligen Kämpfers gegen den Terrorismus" schwankt (Hausmann 2006, 109). Dass es zwischen Terrorismus und staatlicher Gewalt ein Wechselspiel gibt, die Zunahme staatlicher Gewalt also eine (meist gewollte) Folge des Terrorismus ist, betont auch Baudrillard, der von einer "Rezession des Wertesystems" spricht, die eine "Deregulierung" bedingt und "in einem Höchstmaß an Zwängen und Restriktionen, die denen einer fundamentalistischen Gesellschaft gleichkommen" endet (Baudrillard 2002a, 33).

1990 konnte schließlich bewiesen werden, dass die wahren Drahtzieher hinter zahlreichen Anschlägen, so auch hinter dem Bombenanschlag von 1980 auf den Bahnhof von Bologna, bei dem 85 Menschen ums Leben kamen, der P2 Großmeister Licio Gelli, CIA-Agenten sowie Mitglieder des Geheimdienstes waren. Ebenso konnte im Nachhinein der Anschlag auf die Piazza Fontana in Mailand von 1969 einer faschistischen Gruppierung, die enge Kontakte zum italienischen Geheimdienst und Militär hatte, zugeschrieben werden – und nicht, wie ursprüngliche Ermittlungen ergaben – dem Umfeld der linken Anarchisten. Sind viele Anschläge u.a. eindeutig den Brigate rosse, d.h. dem "linken Terror", zuzuschreiben und ist mittlerweile bewiesen, dass die stragi von Bologna und Mailand Taten des "schwarzen Terrorismus" waren (und damit wesentliches Element der strategia della tensione), sind gleichzeitig viele weitere Fälle bis heute ungeklärt, nicht zur Gänze aufgedeckt bzw. wurden die Ermittlungen zu einer lückenlosen Klärung nicht ernsthaft verfolgt. Das prominenteste Beispiel an nicht rigoros geahndeter Korruption und Kriminalität ist sicherlich der Fall des ehemaligen Ministerpräsidenten und angeblichen Vorsitzenden der Freimaurerloge P2, Giulio Andreotti, der u.a. aufgrund seiner Mafiaverbindungen in erster Instanz zu 24 Jahren Haft verurteilt und schließlich in zweiter Instanz freigesprochen wurde.

Dass diese Phase größter gesellschaftlicher Unsicherheit und hoher Gewaltbereitschaft einem "guerra civile a bassa intensità" (Antonello/O'Leary 2009, 1) und einem "nationalen Trauma" (ivi) gleichkommt, kann mit Recht behauptet werden und es ist daher nicht verwunderlich, dass die Ereignisse dieser Jahre, ihre Komplexität und Vielschichtigkeit eine wesentliche Rolle in der unmittelbaren Kulturproduktion spielen, aber auch in den drei darauffolgenden Jahrzehnten bis heute noch immer in zahlreichen fiktionalen Texten, Filmen und TV- Produktionen verarbeitet werden. Eine ganze Reihe von Texten und Filmen setzen sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten, Zugängen aber auch mittels unterschiedlicher ästhetischer Programmatiken mit dem Thema des Terrors und Fanatismus auseinander. Einflussreiche Texte in diesem Zusammenhang sind natürlich jene Leonardo Sciascias, der mit Il contesto sehr zeitnah zu den tatsächlichen Ereignissen die Geschehnisse rund um den compromesso storico beleuchtet und damit sehr fragwürdige Verbindungen von Mafia, Staat und Terror, eben das "Geflecht" (il contesto), aufdeckt. Ähnlich "schnell" reagiert er auf die Ermordung Moros mit L'affaire Moro (1978), einem essayistisch-journalistischen Text bestehend zu einem Teil aus den Briefen Moros, die er aus seiner Gefangenschaft geschrieben hat, und anderen Originaldokumenten, in denen er die tatsächlichen Hintergründe und Geschehnisse rund um Moros Entführung hinterfragt (cf. Pohn-Lauggas 2017). Weiters zu nennen sind die Texte von Ferdinando (Camon Occidente. Un diritto di strage [1975]) und von Paolo Volponi (Il sipario ducale [1974]) über die terroristischen Anschläge auch von rechten Gruppierungen. Alberto Moravia zeigt in La vita interiore (1978) die Formierung der extremen Linken. Unter den zahlreichen neueren Texten lassen sich die Kriminalromane bzw. Thriller von Autoren wie Massimo Carlotto (Arrivederci, amore ciao [2001]) und Giancarlo de Cataldo (Romanzo criminale [2002]) nennen – beide Autoren selbst sind, auf unterschiedliche Weise, in die Geschehnisse der 1970er Jahre in Italien verwickelt.

Das filmische Spektrum zu diesem Themenbereich scheint sogar noch reichhaltiger. Zu erwähnen sind Filme, die sich mit der Darstellung der Figur des Terroristen (männlich und weiblich) beschäftigen, wie Giuseppe Bertoluccis Segreti, Segreti (1984), Wilma Labates La mia generazione (1996), Gianni Amelios Colpire al cuore (1983); oder Filme, in denen die Entführung Moros im Vordergrund steht, wie z.B. Il caso Moro (1986) von Giuseppe Ferrara und aus jüngerer Zeit von Marco Bellocchio Buongiorno notte (2004). Des Weiteren wären Filme zu nennen, die sich mit der strategia della tensione beschäftigen, wie das Portrait über Renato Vallanzasca (Vallanzasca. Gli angeli del male [2011]) und Marco Tullio Giordanas Romanzo di una strage (2012) oder Francesco Rosis Sciascia-Verfilmung Cadaveri eccellenti (1979), in deren Mittelpunkt auch der compromesso storico steht. Zu nennen wäre außerdem Francesco Rosis Tre fratelli (1981), der die Auswirkungen der spannungsgeladenen anni di piombo auf die mehr oder weniger unbeteiligte Bevölkerung demonstriert.

Neben diesen fiktionalen Aufarbeitungen gibt es seit den späten 1990ern (ähnlich wie in Deutschland) einen Trend zu autobiographischen Berichten oder semi-fiktionalen Darstellungen von direkt Beteiligten (meist von ehemals inhaftierten Terroristen). Anders als in den Texten über die Hauptakteure der anni di piombo, versuchen nun die Akteure selbst mit einer gewissen zeitlichen Distanz zu Wort zu kommen: "Deposte le armi, gli ex-terroristi prendono adesso la penna in mano" (Vitello 2013, 6). Als Beispiele wären zu nennen, u.a., die Memoiren des capo storico Renato Curcio der Brigate rosse mit dem Titel A viso aperto (1993) oder Il prigioniero von Anna Laura Braghetti und Paola Tavella (2003), in dem Bragehtti nach ihrer Entlassung aus der Haft gemeinsam mit der Journalistin Tavella Insider-Einblicke in die Entführung und 55 Tage dauernde Haft Aldo Moros gewährt, gleichzeitig aber auch ihre eigene Biographie, ihren Kontakt und das Verhältnis zur lotta armata, ihr Doppelleben und ihre eigenen fanatischen Überzeugungen thematisiert. Den semi-fiktionalen Zugang und die Tarnung als Roman wählt Adriana Faranda ‒ ebenfalls ehemaliges Mitglied der BR, involviert u.a. in der Moro-Entführung und von 1979 bis 1994 inhaftiert ‒ mit ihrem Text Il volo della farfalla (2006), in dem sie primär ihre Jahre in der Haft reflektiert und eine Art "Läuterungsprozess" vorführt.

Im Zentrum meiner weiteren Ausführungen stehen allerdings zwei Texte von Sebastiano Vassalli (Abitare il vento [1980] und L'arrivo della lozione [1976]) und der Film Il divo von Paolo Sorrentino (2008), die neben ihrer thematischen Zusammengehörigkeit ‒ alle thematisieren die anni di piombo und die fragwürdige Rolle von Regierung und Geheimdiensten ‒ sich v.a. dadurch verbinden lassen, dass sie diese Jahre kollektiver Unsicherheit, Gewalt, repressiver Politik und fanatisierter Gesellschaft mithilfe experimenteller Erzählstrategien und Filmtechniken darstellen. Des Weiteren wird in allen Beispielen das Verhältnis von Terror (als Schrecken, der durch Terrorismus erzeugt wird, der aber auch vom Staat scheinbar legal ausgeübt werden kann) und der anti-staatlichen und anti-legalen Reaktion des Terrorismus darauf evident. Allen Autoren gemeinsam ist auch der Versuch, die Linke moralisch zu re-etablieren und stattdessen die Verbrechen der Machthaber (des Staats) aufzudecken bzw. zumindest anzudeuten.

2. Der linke Terrorist in Sebastiano Vassalli Abitare il vento

Im Zentrum von Sebastiano Vassallis Roman Abitare il vento (1980) steht ein orientierungsloser Jugendlicher, der Teil einer linken terroristischen Gruppierung ist, deren Ziele und Inhalte aber auch den Mitgliedern selbst nicht bekannt sein dürften. Das Bild des gefährlichen, monsterhaften Terroristen wird ironisch demontiert, stattdessen wird die Kluft und der mangelnde Dialog zwischen den Generationen illustriert, was, wie eingangs erwähnt, auch eine der Ursachen für die Formierung terroristischer Bewegungen ist und in Filmen und Texten über diese Zeit besonders eindringlich thematisiert wird.

Erzähler ist also ein junger Mann namens Cris, der Mitglied einer (namenlosen) linksextremen Terrorgruppe ist, deren genaue Strukturen und Ziele nicht weiter definiert werden. Cris wird als marginalisierter Jugendlicher dargestellt, der aus Widerspruchsgeist gegenüber gutbürgerlicher Lebens- und Wertvorstellungen und nicht aus ideologischer Überzeugung solch einer Gruppierung beitritt, mit dem Hauptziel zu revoltieren. Wer allerdings die genauen Gegner sind und warum, scheint selbst den Akteuren unklar. Auch die Selbstbeschreibung des Protagonisten entspricht kaum der eines ernstzunehmenden Terroristen: Er und auch andere seiner "Kollegen" bezeichnen sich als "cavalieri erranti" mit der Beifügung "amici di tanti e tante" – sie sind orientierungslose und damit auch ziellose Kämpfer (cf. Vassalli, 8). Die Gruppe ist völlig desorganisiert und macht eher einen komischen als furchteinflößenden Eindruck. Die geschürten Ängste vor dem linken Terrorismus scheinen sie keineswegs zu rechtfertigen. Schon auf den ersten Seiten wird die bewusst erzeugte Paranoia von Seiten der Autoritäten gegenüber einer linken bzw. kommunistischen Bewegung deutlich, wenn Cris von der Polizei aufgehalten, sein Auto durchsucht wird und er sich Gedanken macht, dass die Zeitungen Unità und Manifesto in seinem Kofferraum bereits ausreichen, um ihm Probleme mit der Exekutive einzhandeln (cf. ibid., 5s.).

Einzige "Tat" der Gruppierung im Text ist die Entführung des Sohnes eines Großindustriellen. Die Bewachung der Geisel durch Cris wirkt semi-professionell und wird halbherzig ausgeführt: "Ma a parte questo è un po' tutta la faccenda del rapimento che mi dà da penzare, io di queste cose della cosiddetta criminalità non è che sono un esperto ma mi sembra signor presidente che qui si sta andando a cazzo di cane oppure a puttane, a scelta, il gioco è bello fin che ci gioco ma non scherziamo col fuoco" (ibid., 64).

Hauptthema des Textes ist die Auflehnung der Jungen gegenüber herrschenden Autoritäten, was in einem vermeintlichen Terrorismus mündet. Dieses Generationenproblem, das an der Basis der polarisierten italienischen Gesellschaft der 1960er bis 1980er Jahre steht, wird bei Vassalli vor allem mithilfe metafiktionaler Elemente illustriert. Signifikant hierfür sind vor allem die Szenen, in denen sich der Protagonist an einen autore wendet. Auf den ersten Seiten wird der Text "gestaltet", indem der intradiegetische Erzähler sich, wie ein Maler vor dem Entstehen seines Bildes, alle Requisiten zurechtlegt, die er für die nachfolgende Erzählung brauchen kann.[2] Ein padrone, der mit dem späteren autore ident zu sein scheint, hat dabei die kaufmännische Funktion inne, das heißt er ist für die Bereitstellung und Genehmigung der diversen Güter verantwortlich: "Per mettermi dentro la storia ho bisogno di un'automobile grossa possibilmente francese, peugeot o citroen, fai te. Se vuoi darmi la tua, padrone. Ma no, cos'hai capito, mica te l'ho chiesta in regalo […]" (ibid., 3). Neben der selbstreflexiven ironischen Komponente wird hier vor allem das finanzielle Abhängigkeitsverhältnis in den Mittelpunkt gestellt. Hierarchisch gesehen ist der padrone also nicht nur in seiner Funktion des autore und damit als Urheber und Lenker des Geschehens höher und damit besser gestellt, sondern auch aufgrund seiner materiellen Position. Schon hier nimmt die Figur dem padrone gegenüber eine aufwieglerische Haltung ein, ist sich aber gleichzeitig bewusst, dass der andere aufgrund seiner finanziellen Überlegenheit ihm immer vorangestellt bleiben wird.

Deutlicher werden diese Metalepsen, wenn nicht mehr vom padrone, sondern tatsächlich von einem autore die Rede ist: "[…] vorrei conferire con l'autore di questa storia perché c'è qualcosa qui che a me caldamente non piace e che lui forse nemmeno la capisce, autore! Autore per favore. Autore del mio personaggio. Autore dell'ortolano di Baggio. Autore della Fernanda in calore. Autore del Lessandro-Cassandro e del Diarrea e delle 'nzòchere fiorentine, gnente" (ibid., 72).

Die Orientierungslosigkeit des Protagonisten kulminiert in einer tatsächlichen Obdachlosigkeit, bei der er bei seinem autore Unterstützung sucht, allerdings schon im Vorhinein weiß, dass dieser Wunsch unerfüllt bleiben wird: "Sono un personaggio che cerca tetto-letto […] nell'asfissiante, insopportabile, mostruosa, vaporante, torrida, estate milanese e vorrebbe conferire con il suo autore, tutti i personaggi tutti vorrebbero conferire col loro autore si sa invece non è possible, 'il dottore dorme' 'il dottore è in ferie' 'mi spiace signore ma il dottore qui non ci sta', forse fissando un appuntamento, nel vento…" (ibid., 93).

Wiederum muss die Relation Autor-Figur als Allegorie der Opposition herrschende versus nicht-herrschende Gesellschaftsschicht bzw. linkes Proletariat versus rechte unternehmerische, kapitalistische Führungsschicht gelesen werden. Als ironischer Ausweg aus diesem Machtgefüge definiert Cris seinen wahren Herrn selbst, nämlich seinen Penis, den er in vielen Dialogen als "Grande Proletario" anspricht. Dieser scheint auch die für ihn einzige vertrauenswürdige Instanz zu sein, nachdem ihm von seinen Kollegen Ideologielosigkeit vorgeworfen wurde: "[…] mi accusano di essere un profittatore, un cavaliere errante amico di tanti e di tante che non fa nemmeno piú finta di credere nel giusto-causa, riposo, e che quindi caldamente e sostanzialmente è un nocivo pericoloso" (ibid., 11).

Der zwischen Auflehnung und Gehorsam schwankende Protagonist sucht schließlich den Ausweg im Selbstmord: "abitare il vento" – der nicht zuletzt auch aufgrund der "Unverlässlichkeit" seines "Grande Proletario" begangen wird.[3] Zuvor kommt er allerdings noch zu dem Schluss, dass es vielleicht gar keinen Autor gibt, d.h. keine letztver­antwortliche Instanz, sondern dass jeder Autor auch gleichzeitig Figur ist und umgekehrt: "Ma chi è l'autore? Sono proprio sicuro di avere un autore? […] Inzomma e contiamocela giusta, gli autori sono personaggi anche loro. Nostri. […] E io Antonio Cristiano Rigotti sono personaggio come tutti. Ma sono anche autore di tante cose. Del Grande Proletario ad esempio" (ibid., 110).

3. Der rechte Terrorist in Sebastiano Vassalli L'arrivo della lozione

Wird in Abitare il vento das Schreckgespenst des linken, kommunistischen Anarchisten bewusst ironisiert, beschreitet Vassalli in einem einige Jahr zuvor entstandenen Text den umgekehrten Weg. In L'arrivo della lozione (1976) ‒ bereits im Titel versteckt taucht das Wort rivoluzione auf ‒ steht kein linker Terrorist/Anarchist im Mittelpunkt, sondern vielmehr ein rechtsextremer Terrorist, der den Namen Benito Chetorni, in Anspielung an einen wiederkehrenden ("che torni") Duce, trägt. Seine Eltern heißen bezeichnenderweise "Italia Nostra" und "Emanuele Vittorio" (cf. Vassalli 1976, 3), was Benito als Prototypen des italienischen Jugendlichen darstellt und "die reaktionären Tendenzen der italienischen Politik Mitte der siebziger Jahre [verkörpert]" (Morese 2003, 76). Nach dessen Tod – nach einem mit hoher Wahrscheinlichkeit von ihm begangenen Bombenanschlag auf San Giovanni di Murgia am 1. Mai 1970 taucht er unter – versucht nun ein homodiegetischer Erzähler das Leben Benitos zu erforschen und stützt sich dabei auf Zeugenaussagen, diverse Zeitungsberichte und Interviews, die vom Erzähler immer wieder ironisch unterbrochen und/oder kommentiert werden. Dass dem toten Benito von Seiten des Erzählers kaum Sympathie entgegengebracht wird – im Unterschied zu Cris aus Abitare il vento – ist augenscheinlich. Er ist ein klassischer Mitläufer, ein "sottoproletario della destra" (cf. Tani 1990, 45), der sich für einen Hauch von Anerkennung zu den brutalsten Tätigkeiten hinreißen lässt. Sein Interesse gilt der Bekämpfung des Kommunismus, wie aus einem Interview, das der "Erzähler-Biograph" mit dessen Mutter führt, hervorgeht:

– "E questa causa ideale per cui suo figlio combatte, sa se è una causa plausibile?" – "[…] Lo invidiano per questo. Per le amicizie di altolocati. Perché credeva a una causa che m'ha spiegato testuale: ordine e giustizia, pace e progresso. Via la canaglia, gli scioperi. I comunisti figli di satana. Che questa non è politica, è verità sacrosanta che la diceva anche il parroco. Che sono scomunicati, quelli. Che mangiano i bambini e adoran teste di asino." (Vassalli 1976, 51)

Die Meinungen über Benito sind verschiedenster Art und reichen vom Bild des armen Märtyrers und Helden (Mutter) bis hin zu offenem Hass (sein Vater hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Ho dato vita a un mostro; cf. ibid., 73[4]).

Lozione steht nun für die gefürchtete Machtübernahme durch die Linke: "[…] ragazzi c'è la lozione in piazza. Alludendo a manifestazione non programmata di rossi" (ibid., 121), wogegen sich die Rechte in paramilitärischen Ausbildungscamps und gezielt eingesetzter Propaganda zur Wehr setzen will.[5] Benito ist einer von ihnen; so irrwitzig allerdings die Angst vor der Linken dargestellt wird, so absurd überzeichnet wirken auch die rechten Gegentendenzen. Benito ist, ähnlich wie Cris aus Abitare il vento, ein Anti-Held, aus einfachen Verhältnissen stammend, der sich, wie Cris, aus Mangel an Alternativen und auf der Suche nach Zugehörigkeit einer Gruppierung anschließt. Als ernste Bedrohung wird allerdings das Machtwerk, das dahinter steht, beschrieben. Angespielt wird u.a. auch auf die Mafia und deren Verbindung zu Polizei und Politik. So gibt ein Mitglied der Gruppierung Einblick in seine Arbeit und stellt klar, dass es eben keineswegs um Verbreitung einer Ideologie, sondern vielmehr um die persönliche Bereicherung geht: "Noi ci occupiamo di soldi, non ci interessano gli uomini. […] –'Niente ideologia quindi?'; – 'Gliel'ho già detto: il profitto'" (ibid., 100). Und auf die Frage, ob sie Verbindungen zur Polizei und zum Staat hätten, erhalten wir die unzweideutige Antwort: "Certo che abbiamo rapporti. Di convivenza direi. Di collaborazione, forse" (ivi). Auch Benito wird als bestens "vernetzt" beschrieben: "Lo invidiano per questo. Per le amicizie di altolocati" (ibid., 51). Seine Mutter sieht allerdings nicht Profitgier als Antrieb, sondern sehr wohl die Überzeugung der Sache: "Perché credeva a una causa che m'ha spiegato testuale: ordine e giustizia, pace e progresso." (ivi)

Weiters ist von undurchsichtigen Prozessen die Rede, von Ermittlungen, die abgebrochen werden oder im Sand verlaufen, von ominösen anonymen (Kron-)Zeugen, die ebenfalls auf wundersame Weise verschwinden oder doch zu anderen Aussagen kommen, von berühmten politischen Persönlichkeiten, die intervenieren etc. Ein komplexes, kriminelles Gefüge wird angedeutet, tatsächlich beschreib- und benennbar ist es aber nicht. Es kann nur in Form von zahlreichen Anspielungen, fiktiven Namensspielen und Sprachspielereien dargestellt werden; so z.B. in der Beschreibung darüber, was nach einem Anschlag, bei dem Benito scheinbar mitgewirkt hat, passiert:

Benito Chetorni sparisce: dove va? Làtita. Latiterà per un pezzo. Il suo nome s'intreccia alle piú prestigiose piste, le sue peste si mescolano con le piú abominevoli poste, le sue piste s'impastano con le piú deliranti tresche. Mentre la terra circola intorno al sole e l'istruttoria lentamente ma inesorabilmente fa sopralluoghi, compie perizie, accumula e dissipa i suoi elementi, evidenzia le trame, incarcera extraparlamentari, parlamenta gli extracarcerati, riaffiora di tanto in tanto nei telegiornali secondo tempi e momenti, aggira tortuosamente gli ostacoli, cozza caparbiamente nell'evidenza, evidenzia autorevolmente le alternative e le ipotesi, prospetta per un attimo il delitto passionale, incrimina ignoti, tira in ballo Feltrinelli, ammette in seguito che s'è trattato d'un lapsus, incarica la polizia giudiziaria di ricercare attivamente il predetto Benito Chetorni per interrogarlo come testimone. Ma il Benito Chetorni làtita. (ibid., 50)

Der discours wird also zur eigentlichen bedeutungsgenerierenden Ebene ernannt und löst die histoire zeitweise gänzlich ab. Noch ganz im Zeichen der Neoavantgarden wird die Sprache zum prototypischen Medium für die Unzuverlässigkeit von Bedeutung erhoben. Zahlreiche Sprachspiele, das Verwenden sprechender Namen, die für sich genommen schon eine eigene Geschichte erzählen würden, zeigen eine Undurchsichtigkeit des discours auf (cf. ibid., 54-56). Ebenso wechselt auch die Erzählhaltung ihren Ton je nachdem, welches Medium imitiert wird: ironisch, sarkastisch, komisch, journalistisch, regieähnlich, an ein Verhör erinnernd etc. Dieser Pastiche stellt seinen Konstruktcharakter in den Vordergrund, indem aus verschiedenen Blickwinkeln immer wieder betont wird, dass es sich um einen verfassten resp. zu verfassenden Text handelt (cf. Morese 2003, 76). Aber auch sein Vorhaben, eine auf realem Beweismaterial basierende Biografie zu verfassen, wird vom Erzähler nicht immer mit derselben Strenge verfolgt: So kommt es eben zu zahlreichen Digres­sionen zugunsten von Sprachspielereien u.ä., die aber dazu dienen, den tatsächlichen Standpunkt des Erzählers offenzulegen und den vorhandenen Hauch an Objektivität über Bord zu werfen: "Così rievocando episodi. Ricostruendo fatti e vicende. Evocando larve e fantàsmati di personaggi da fresco moderatamente storico. Deplorevolmente grottesco. Volutamente irrealistico. Passabilmente ironico. Mediocremente comico. Genericamente tragico. Adeguato (forse) alla murgia di forza che ci è toccata per vivere" (Vassalli 1976, 53).

Widergespiegelt wird hier eine undurchsichtige Informationsvielfalt, die jener der Ereignisse der 1970er Jahre stark ähnelt. Dem Zeitzeugen bleibt ein Überblick und v.a. der Durchblick verwehrt.

4. Der Kopf des Systems? Paolo Sorrentinos Andreotti-Portrait Il divo

Stehen in den zwei soeben skizzierten Texten eher Fragen nach den Auswirkungen ständiger öffentlicher Gewalt auf das gesellschaftliche Gefüge, eine Täter-Ursachen Forschung sowie deutliche Kritik an den hierarchischen gesellschaftlichen Strukturen und oppressiven Methoden der Politik im Vordergrund, ist der Film Il divo ein Biopic über einen der Protagonisten jener Zeit, nämlich Giulio Andreotti. Demnach sind die Referenzen auf Fakten der jüngeren italienischen Geschichte besonders zahlreich.

 

Vid. 2. Trailer zu Il divo (externer YouTube-link)

 

Der Film wird wie eine klassische Filmbiographie mit semi-dokumentarischem Anspruch eröffnet, wenn zuallererst ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen der zur Debatte stehenden historischen Epoche vorangestellt wird. Sorrentino rekurriert damit auf ein aus klassischen Filmbiographien bekanntes Pattern und kündigt scheinbar ein primär heteroreferentielles und Authentizität beanspruchendes Portrait an. Die Möglichkeit der objektiven Darstellung eines Menschenlebens, des Erzählens über einen Menschen wird aber alsbald in Frage gestellt: So sieht sich der Zuschauer nach dem glossario, das ihn mit Gruppierungen und Menschen wie den BR (Brigate rosse), der DC (Democrazia cristiana), der Freimaurerloge P2 und Aldo Moro vertraut macht, mit dem scheinbaren Ziel, dem Film einen objektiven historischen Rahmen und dokumentarischen Charakter zu verleihen, im darauffolgenden Moment mit der Einblendung eines Zitats von Rosa Falasca Andreotti (Andreottis Mutter) konfrontiert: "Se non potete parlare bene di una persona, non parlatene" (Il divo 2008, 00:02:10). Die Botschaft ist von Anfang an ambigue, wenn objektives Material (Glossar) und subjektives Empfinden (Zitat der Mutter) Seite an Seite gestellt werden. Über das Zitat von Andreottis Mutter wird eine Selektion positiver Aspekte vorgeschlagen, auf die aber der Zuschauer schon durch die Wahl der Begriffe des Glossars keinesfalls hoffen kann.

Bevor sich noch eine einzige Figur auf dem Bildschirm gezeigt hat, destruiert der Film bereits jeden objektiv-referentiellen Anspruch. Stattdessen generiert der Film mit den Schriftinserts im Vorspann einen Widerspruch und steht von Anfang an unter dem Zeichen der Ambiguität[6], die sich nicht nur durch eine dezidiert ambivalente Hauptfigur und damit meist a-chronologische, a-lineare sowie a-kausale Erzählweise, sondern im Weiteren durch eine ausgesprochen überdeterminierte, oftmals surreale Ästhetik bildet, die teilweise im Widerspruch zu dem Darzustellenden steht. Ambiguität bedeutet hier daher keinesfalls Sinnverlust, sondern dient vielmehr dem Aufzeigen des Ungeklärten und des Doppeldeutigen in der jüngeren italienischen Geschichte und ihrer Protagonisten und aktiviert das Publikum zur "Mitarbeit" an der Neuordnung der im Film dargebotenen Fakten.[7]

Wenn dann die eigentliche Diegese beginnt, die zu Beginn der 1990er Jahre einsetzt, ist es schon nicht mehr verwunderlich, wenn aus dem Dunkeln, zuerst aus einiger Distanz, dann per Zoom in Großaufnahme ein mit Akupunktur-Nadeln im Kopf über Kopfschmerzen und sein Leben sinnierender Andreotti präsentiert wird, der alleine im Halbdunkeln in seiner Küche sitzt.[8] Prägnant und nicht ganz ohne Zynismus gibt er sich als "Überlebender" zu erkennen:

Lei ha sei mesi di vita, mi disse il medico alla visita di leva. Anni dopo lo cercai per fargli sapere che ero sopravvissuto, ma era morto lui. È andata sempre così. Mi pronosticavano la fine, io sopravvivevo, sono morti loro. In compenso per tutta la vita ho combattuto contro atroci mal di testa. Ora sto provando questo rimedio cinese, ma ho provato di tutto. A suo tempo, l'Optalidon accese molte speranze. Ne spedii un flacone pure a un giornalista, Mino Pecorelli. Anche lui è morto. (ibid., 00:02:28)

Als er schließlich aufsteht, nachdem in Großaufnahme aus der Vogelperspektive das Auflösen eines Aspirins gezeigt wurde, ist sein Kopf durch einen weißen Lampenschirm verdeckt.

 

Abb. 2. Toni Servillo als Andreotti; Filmstill aus: Il divo (2008), 00:05:40

 

Das widersprüchliche Verhältnis von Inhalt und Form wird in Il divo in dieser ersten Szene weiter perfektioniert, wenn zwischen dem skurril anmutenden, mit Akupunkturnadeln bespickten Andreotti und der Szene, in der er das Aspirin einnimmt und sich dann hinter dem Lampenschirm versteckt, eine Reihe von Morden gezeigt wird (cf. ibid., 00:03:15-00:05:31). Es handelt sich um diverse (Auftrags-)Morde in Italien zwischen 1979 und 1992, angefangen bei Aldo Moro über Mino Pecorelli, Giorgio Ambrosoli, Roberto Calvi, Michele Sindona bis hin zu Giovanni Falcone. Auch wenn es sich um historische Personen und Ereignisse handelt, ist die Darstellung dieser Morde alles andere als eindeutig. In rasch wechselnder Parallelmontage werden diverse Täter und Opfer gezeigt; zusätzlich gibt es einen Wechsel aus Rockmusik[9] und absoluter Stille, in der nur Schritte zu hören sind, die sich allerdings gerade nicht mit dem Rhythmus der tatsächlich Flüchtenden decken. Die Inszenierung von Schnitt und Musik lässt das Ganze als eine Art Ballett erscheinen, dessen Choreographie eben nicht der außerfiktionalen linearen wie temporalen Logik folgt, sondern vielmehr rein ästhetisch motiviert ist. Die Aneinanderreihung von Opfern und Tätern erfolgt keinesfalls logisch-kausal, sondern scheinbar zufällig. Dieser Zufälligkeit entspricht der "trügerische Schnitt"[10], mit dem Sorrentino so oft die außerfilmische wie innerfilmische Logik aufbricht: So wechselt die Aufnahme eines Killers auf dem Motorrad, der sich auf einer verlassenen Landstraße umdreht und sein Maschinengewehr auf jemanden (den wir aber nicht sehen) richtet, mit einer auf einem Parkplatz von einer Pistole erschossenen Leiche, um dann wieder einen anderen Killer in den Blick zu nehmen. Es sind die Morde an Pecorelli (1979) und Dalla Chiesa (1982), die hier, unter anderem, parallel montiert werden, jede chronologische Anordnung historischer Fakten missachtend. Dieser durch die Montage und den Ton erzeugte surreal-skurrile Charakter der an sich eindeutigen Ereignisse wird noch durch die Textinserts, die die Toten identifizieren, unterstrichen. Sie fliegen verspielt ein, zuerst auf dem Kopf und drehen sich erst dann. Den Höhepunkt bilden schließlich die beiden Morde an Moro und Falcone, die in absoluter Stille gezeigt werden. Vor allem der Mord an Falcone (der zu einem späteren Zeitpunkt in ebenso skurriler Weise wiederkehrt) wird in bedächtiger Zeitlupe dargestellt, wenn wir zuerst ein Skateboard mit einer darauf befestigten Bombe durch ein Betonrohr fahren sehen und dann, am anderen Ende des Rohres, das fast gespenstische Fallen des Autos Falcones und die anschließende Explosion auf einer verlassenen, kraterartigen (fast mondartigen) Oberfläche beobachten. Die Darstellung der letzten beiden Morde unterscheidet sich deutlich von den vorhergehenden und hat nichts mehr von deren serieller Leichtigkeit, denn es sind Moros und Falcones Tod, die Andreotti am meisten belasten: Der Tod des Ersteren lastet schwer auf seinem Gewissen, der Anschlag auf Zweiteren verhindert seinen Einzug in den Palazzo del Quirinale und damit die Krönung seiner politischen Karriere.

Im Zentrum der Handlungsfülle steht die Figur Andreotti, über den wir wenig Sicheres erfahren. Als nicht zu bezweifelnde Tatsachen werden seine permanenten Kopfschmerzen, seine unverwechselbare und vor allem durch nichts zu erschütternde Wesensart, seine fast gespenstische Ruhe und seine vertrauensvolle Beziehung zu seiner Ehefrau wie auch zu seiner Haushälterin[11] und natürlich sein alles in den Schatten stellender Ehrgeiz gezeigt. Die "private" Person Andreotti wird durch einen inneren Monolog als Stimme aus dem Off repräsentiert, der aber auch nicht wesentlich Aufschluss über ihn gibt, ebenso wenig wie seine Beichte vor dem Priester seines Vertrauens Mario (cf. ibid., 00:09:26 und 00:32:14-00:34:21). Einzig dass der Tod Aldo Moros schwer auf ihm lastet, ist er bereit einzugestehen. Seine innersten, kontemplativsten Momente werden allerdings in den sich wiederholenden nächtlichen Spaziergängen gezeigt, die er groteskerweise begleitet von drei langsam neben ihm herfahrenden Autos und einigen schwerbewaffneten Männern durch die Straßen Roms unternimmt (cf. ibid., 00:06:48-00:08:19 und 00:31:52-00:32:12). Als er kurz innehält und den auf eine Hausmauer gesprühten Reim "Stragi e complotti portano la firma di Craxi e Andreotti" (ibid., 00:07:35) liest, lassen sich seine Gedanken nur erahnen, kommentiert werden sie in keiner Weise. Wo ein Kommentar in Form des inneren Monologs angebracht wäre, wird er ironischerweise gerade ausgespart. Eine sich ebenso, fast refrainartig wiederholende und Andreotti charakterisierende Szene ist das Einnehmen von und Sinnieren über Schmerztabletten gegen Kopfschmerzen. So kehrt die eingangs beschriebene Szene, in der wir den von Kopfschmerzen geplagten Andreotti in der Küche hinter dem Lampenschirm sehen, zu einem späteren Zeitpunkt wieder, nur diesmal noch mit einem Zusatz. Nachdem Andreotti das Schmerzmittel eingenommen hat, schweift sein Blick auf seine auf dem Tisch liegende Hand, auf der zuerst nur eine, dann unerklärlicherweise immer mehr Ameisen krabbeln (cf. ibid., 01:14:25). Nicht nur erinnert die Szene an die berühmte Szene aus dem surrealistischen Film par excellence, Un Chien andalou von Salvador Dalì und Luis Buñuel, sondern die Ameisen erfüllen auch eine mehrfach symbolische Bedeutung. Sie können einerseits ein Zeichen für das durch Schmerz und Schmerzmittel getrübte Bewusstsein Andreottis sein; sie deuten aber auch das langsame Brüchigwerden seiner absoluten Macht und den Beginn seiner Verwundbarkeit an.

In der dieser vorausgehenden Szene hat Andreotti ein "Geständnis" abgelegt, in dem er sich zu allen ihm angelasteten Taten bekennt und zugibt, zahlreiche Verbrechen im Dienste der Machterhaltung direkt und indirekt begangen zu haben (cf. ibid., 01:12:00-01:14:01). Dieses Geständnis ist rein fiktiv und findet bezeichnenderweise wie bei einem dramatischen Soliloquium auch nur zwischen Andreotti und Zuschauer statt. Ob es je so ein Geständnis gegeben hat oder geben wird, ist unwahrscheinlich; als öffentliches hat es natürlich bis dato nicht stattgefunden, was aber nur der mit Geschichte und Politik vertraute Zuseher wissen kann. Generell sollten biographische Formen einen referentiellen Pakt mit dem Rezipienten eingehen und gewährleisten.[12] Was aber, wenn das Bezugssystem ungenügend aufgearbeitet ist und sich primär durch Leerstellen manifestiert? Im Fall von Il divo ist bereits das vermeintlich reale Bezugssystem von vielen fiktiven (im Sinne von erfundenen wie auch von unwahren) Elementen gekennzeichnet. Somit führt sich jeder referentielle Pakt ad absurdum. Die Widerspiegelung eines rätselhaften, mit vielen Leerstellen versehenen außerfiktionalen Bezugssystems löst Sorrentino durch ein extremes foregrounding der materiellen Gemachtheit des Films und ein Aufblähen der diegetischen Ebene (cf. Wolf 1993, 309), was, gemeinsam mit den antiillusionistischen Blicken direkt in die Kamera,[13] zu einem Illusionsbruch führt. Die das Biopic charakterisierende Differenz Fiktion-Realität wird hier zu einer Metareflexion über eben diese Differenz erweitert, und der Film liefert neben einer Interpretation der Person Andreottis auch eine generelle Reflexion über die Möglichkeit der objektiven und wahrheitsgetreuen Darstellung geschichtlicher Ereignisse und individueller Lebensgeschichten.

 

Zitierhinweis:

Pichler, Doris (2017), "Terror und Oppression während der anni di piombo in Literatur und Film." In lettere aperte vol. 4, pp. 55-71 [online https://www.lettereaperte.net/artikel/ausgabe-42017/309]

 

Literaturverzeichnis

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Abbildungen:

Abb. 1. DVD-Cover Die bleierne Zeit, ArtHaus, 1981 (Regie: Margarethe von Trotta)

Abb. 2. (cc)-Lizenz https://it.wikipedia.org/wiki/Sessantotto#/media/File:Sessantotto_manifestazione.jpg

Abb. 3. DVD-Cover Il divo, Warner Bros. Entertainment Italia SPA, 2015 (Regie: Paolo Sorrentino)

Abb. 4. Filmstill aus: Il divo (s. Abb. 3).

 

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Bildnachweis: Umberto Boccioni (1915): Carica di lancieri, Public Domain