Krise und Erneuerung. Die faktuale Offensive des Fiktionalen

Italien

Der Protagonist des 2011 erschienen Textes Dove eravate tutti von Paolo Di Paolo (*1983) trägt den Namen Italo Tramontana und hat etwa dasselbe Alter wie sein Autor. Italo denkt in diesem Text nicht nur fortwährend über die Stürme des Schicksals, die über die eigene Familie hinwegfegen, seinen Subjektstatus und seine Identität, sondern insbesondere über ein Italien nach, das der Gegenwart des Entstehungszeitraumes des Textes entspricht. In der nachgehängten Nota dell’autore wird dieser Text als “romanzo” (Di Paolo 2011, 217) lanciert, “scritto tra i primi mesi del 2009 e i primi mesi del 2011” (Di Paolo 2011, 217), während der vorerst letzten Regierungsjahre Berlusconis. Der Roman habe seinen Ausgang von einer “notizia di cronaca” (Di Paolo 2011, 217) genommen, so wird die Leserschaft weiter informiert, also einer journalistisch aufbereiteten, faktualen Nachricht ob eines realen Ereignisses, in diesem Falle eines Autounfalls, bei welchem zwei Schüler verletzt wurden. Am Steuer saß ein frisch pensionierter Lehrer, aus dem im Roman Italo Tramontanas Vater Mario werden wird. Sodann beeilt sich die Nota umgehend, die fiktionale Absorption des faktualen Ausgangspunktes topisch zu bekräftigen: “Al di là dello spunto, tutto il resto – compresi nomi, luoghi e casuali coincidenze con la vicenda reale – è naturalmente frutto di immaginazione” (Di Paolo 2011, 217). Die gleichfalls topische Ironisierung des vollständig imaginären Status des Romans signalisiert selbstredend – jenseits der zu Beginn des 21. Jahrhunderts bereits per se ironisierenden Aktualisierung dieser topischen Wendung – eine gegenteilige Aufstellung der Elemente der literarisch generierten Welt, deren Realitätsreferenzen offenkundig gesonderte Aufmerksamkeit verdienen. Sofern die Leserinnen und Leser die an den Roman angehängte Nota nicht bereits vor Beginn der Lektüre rezipiert haben, kann nunmehr in voller Kenntnis der histoire und ihrer diskursiven Entfaltung dieses metafiktionale Spiel entsprechend goutiert werden. Die in der Folge lektüreleitend nachgereichten Verweise auf generativ einbezogene Autoren (darunter wiederum topisch platzierte Hochkaräter wie Leopardi, Rimbaud, Walter Benjamin und Henry Miller), Pop-Musik, Künstler wie Robert Rauschenberg und geneigte Unterstützer wie Antonio Tabucchi, werden ihrerseits vermittels zweier hierzu quer verstrebter Denotate durchbrochen, die aufhorchen lassen. Zum einen verweist die Nota für den zweiten der drei Teile des Textes (Parte prima FINE DELLA MAGIA; Parte seconda STORIA DEGLI ANNI SENZA NOME; Parte terza TUTTI A BERLINO), der sich mit der historiographischen Versenkung in die Vergangenheit und der “dimensione esistenziale del lavoro di storico” (Di Paolo 2011, 217) beschäftige, explizit auf Hayden Whites Forme di storia. Dalla realtà alla narrazione (2006; The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation 1987) als Referenztext. Es wird also bestätigt, dass die annoncierten metahistoriographischen Denkübungen von metafiktionalen Komplementen flankiert werden. Zum anderen findet sich wenig später ein Verweis auf Silvio Berlusconi positioniert, der einen der zahlreich in den Text montierten intermedialen Paratexte aufruft: eine kurze Comic-Strecke, welche – ebenso wie ein Schüler-Poster, eine personalisierte graphische Geschichts-Synopse, ein Stadtplanausschnitt von Berlin–Mitte, eine Handzeichnung und insbesondere die zahlreich dem Text implementierten Frontseiten italienischer Tageszeitungen – die dem Roman eingeschriebene Rekapitulation der jüngeren Geschichte Italiens strukturierend rhythmisiert. Die Nota verknüpft an dieser Stelle also ausdrücklich Berlusconi mit einer Comic-Seite sowie dem dort visualisierten Omino di burro aus Collodis Pinocchio und generiert eine semantische Triangulation, die schließlich durch weitere intertextuelle Verweise argumentativ abgestützt wird. Die intermedialen und intertextuellen Verstrebungen unterschiedlicher faktualer, fiktionaler und medialer Dimension sind in diesem Sinne durch Text und Paratexte vielfältig gefügt und versteifen die Ebene der erzählerischen Vermittlung des romanzo in einem auf geradezu überdeutliche Visibilität fußenden Konstruktionsverfahren.

Die histoire-Ebene des Romans beschränkt sich folgerichtig nicht auf ihre Figuren und deren Handlungen, sondern indiziert gerade zu Beginn des Textes die faktuale politische Ereignisgeschichte Italiens seit 1993. Hierzu dient eine obsessiv in die einleitenden Reflexionen des Ich-Sprechers eingebrachte Zeitlichkeit, die jeweils auf die aufeinander folgenden Regierungen Silvio Berlusconis referiert (“Quindici anni dopo le premesse del governo Berlusconi I, nel pieno del governo Berlusconi IV, come se non bastasse, nonno stava morendo”; Di Paolo 2011, 19). Bezugsrahmen der personalisierten Geschichte des Ich-Sprechers Italo, seiner Familie und seiner Freunde ist somit explizit der Staat Italien, das Post-tangentopoli-Italien Berlusconis, das zum Zeitpunkt der Publikation des Textes weiterhin andauert. Italien und die politische Klasse der sogenannten Zweiten Republik werden zu Landmarken jener Topographie, welche die Synthesebemühungen Italos kognitiv zu erschließen versuchen. Erinnerungsversuche des Ich-Sprechers an vorangehende Ereignisse verlieren sich altersbedingt in den Attentaten des Jahres 1992 (“quando la mafia uccise il giudice Paolo Borsellino”; Di Paolo 2011, 23), sind also von unerheblicher historischer Reichweite: Die Prägemacht des Berlusconi-Zeitalters wird dergestalt umso nachhaltiger inszeniert. Darüber hinaus reichern weitere zeitgeschichtliche Verweise die monothematische Berlusconi-Phase durch gesellschaftspolitische Augmentationen an (1993: Totò Riina, il Mostro di Firenze, Bettino Craxi etc.), die auch weltgeschichtliche Dimensionen annehmen können (US-amerikanische Präsidenten seit Bill Clinton etc.). Die Rekapitulation politischen Zeitgeschehens gerät so zur Folie der Identitätsbildung des Ich-Sprechers, die jüngste Geschichte Italiens zur Oberflächenmarkierung der Selbst-Konstitution, welche aus der Perspektive des Jahres 2008 einer zuweilen ungläubig summierenden Sichtung unterzogen wird. Einer jungen Sichtung, die – die ersten Seiten des romanzo geben die Richtung vor – Lebens- wie Landesgeschichte ist. Italo zählt 1993 elf Jahre, so erfährt man, blickt also 2008 sechsundzwanzigjährig auf fünfzehn Jahre Zeit- und Selbst-Geschichte zurück, die immer wieder in den Fluchtpunkt Berlusconi mündet:

L’Italia aveva tutta l’aria di essersi addormentata in quell’anno. Nonno fermo. La nazione pure. La corruzione. La mafia. La Lega. Silvio Berlusconi al centro della scena politica, ora come allora. E sì che nel frattempo parecchie di quelle esperienze che, come si dice, contano, c’erano state.

Ho undici anni. È il mio esame di quinta elementare. Sto per cominciare una penosa esibizione musicale: Yesterday con una pianola. Sudo freddo. Mi blocco. Sol-Fa-Fa. Sento gli occhi di tutti addosso. Al governo c’è Berlusconi.Sono maggiorenne, finalmente tutto può cambiare, o forse niente. Sdraiato sulla spiaggia di Sabaudia, la mia testa è sulle gambe di una ragazza, è già notte fonda, è da poco estate, forse ci prendiamo un malanno. Al governo c’è Berlusconi.È un pomeriggio di dicembre, la signora-commissario mi dice: torniamo alla scuola guida. Faccio per prendere una strada, però è quella sbagliata. Ma che fa, va contromano?, chiede stizzita la signora-commissario. Penso di essermi giocato la patente. Al governo c’è Berlusconi.La prima volta? l’esame di maturità? la visita di leva (un attimo prima che fosse abolita)? la laurea cosiddetta triennale? Governi Berlusconi II, III, IV. Mi sento costretto a concludere che niente di decisivo nella mia vita fin qui è accaduto senza che ci fosse, da qualche parte, Silvio Berlusconi. Questa non è una cosa bella, né brutta. È una cosa vera.Potrà sembrare strano, ma l’Italia prima di lui, o senza di lui, per me non è mai esistita. La giovinezza di una generazione ha coinciso con lui. E non c’è più tempo.Il primo bacio, ricordo di averlo dato alla fine degli anni novanta, sotto un governo Prodi. Ma per il resto, Berlusconi: quando ho compiuto diciott’anni, per esempio, e così i venti e venticinque. Per una fittissima serie die micro-eventi, scoperte, cose che faceva molto bene o molto male imparare.I governi di sinistra, durante la mia vita cosciente, cadevano così in fretta da non lasciare il tempo di fare esperienze significative. La vita privata restava la stessa all’inizio e alla fine delle legislature. (Di Paolo 2011, 26-28)

Paolo Di Paolo liefert mit Dove eravate tutti, das im Jahre 2012 mit dem Premio Mondello und dem Super-Premio Vittorini ausgezeichnet wurde, eine mehrfach kodierte Krisenerzählung. Deren Makrostruktur richtet einen politischen Diskurs als Geschichtserzählung auf, in welche hinein die Coming of Age-Erzählung eines Ich-Sprechers eingelagert wird, der schließlich genrekonform sein Land verlässt: Italo wird (vorübergehend) nach Berlin gehen. Die fiktional aufbereitete histoire referiert dabei fortwährend auf reale Ereignisse und empirische Akteure, welche die erzählte Welt, den fiktionalen Ereignisraum systematisch faktualisieren: räumlich wie temporal strukturieren, möblieren und emotiv kolorieren. Der Autor legt mithin einen Text vor, der wesentlich von Interferenzen faktualer und fiktionaler Elemente lebt, der intermedial ausstaffiert und intertextuell vielfältig vernetzt ist. Der Protagonist Italo ist so alt wie sein Autor, die aufgegriffene Zeitgeschichte ist so aktuell, dass Leserinnen und Leser das Ende dieser historischen Phase noch nicht kennen. Die diesen Italien-Roman durchrollenden, auf Faktuales referierenden Überlegungen erweisen sich folglich als durch und durch politisch und finden sich doch zugleich (auto-)fiktional gebrochen, privatistisch entschärft.

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