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Die zeitlose Tragödie der Macht: Vierzig Jahre Affaire Moro

Im Mai 2018 jährt sich mit der Ermordung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden der düstere Höhepunkt der bleiernen Jahre in Italien zum vierzigsten Mal. Die Entführung, die Gefangenschaft und die ebenso verzweifelten wie erfolgslosen Versuche Moros, die offiziellen Vertreter seines Landes zu Verhandlungen zu bewegen, die sein Leben hätten retten können, veranlassten den Schriftsteller Leonardo Sciascia zu einer bemerkenswerten ‚intellektuellen‘ Intervention in die politisch-ideologische Debatte jener Zeit: Mit L’Affaire Moro verfasste er noch im selben Jahr einen Essay an der Grenze zwischen Literatur und Publizistik. Der vorliegende Beitrag lädt zu seiner Relektüre ein.

Intellettuali vili?

Dass sich Sciascia mit seinem in kürzester Zeit verfassten und noch 1978 veröffentlichten Text L'affaire Moro (hier zitiert als AM) überhaupt zu Wort gemeldet hat, war so selbstverständlich nicht, im Gegenteil: Zunächst hatte er sich Schweigen auferlegt. Und das in einer Situation, in der das ganze Land wochenlang im Banne des Geschehens stand und die unterschiedlichsten Akteure sich zur Intervention berufen fühlten, natürlich auch 'die Intellektuellen'. Grundsätzlich ging es um die Frage, ob man die Position 'des Staates' teilen sollte, der sich von Aldo Moros Entführern nicht erpressen lassen wollte, oder ob man – wenn auch nur augenscheinlich – deren Spiel mitspielte und Zugeständnisse machte, um Moros Leben zu retten. Ein Dilemma nicht zuletzt für die Linke: Die Kommunistische Partei legte sich sehr früh fest und scherte bis zuletzt nicht aus der geschlossenen Front der fermezza aus, und selbst radikalere Gruppen wie Lotta Continua traten unter dem Slogan "Né con le Brigate Rosse, né con lo Stato" für eine prekäre Äquidistanz ein (cf. Collura 2000, 269).

Sciascia aber enthielt sich zunächst, obwohl es – man denke nur an seine politischen Kriminalromane Il contesto und Todo Modo, die in den Jahren zuvor entstanden waren (1971 bzw. 1974) – hier doch um Fragen ging, die sein Denken und Wirken im Kern berührten. Für dieses Schweigen wurde er auch umgehend kritisiert; die Heftigkeit allerdings, mit der diese Kritik vorgetragen wurde – Paese Sera etwa warnte vor den "suggestioni corrosive provenienti da intellettuali solitari, a cominciare da Leonardo Sciascia, da tempo arrivato alla conclusione che questo Stato sia da buttare" (Coppola 1978) –, wird nur verständlich, wenn man einen Disput in Erinnerung ruft, der ein Jahr zuvor stattgefunden hatte.

Im Frühjahr 1977 stand einer der größten Prozesse gegen die Brigate rosse in Turin noch vor Beginn kurz vor dem Scheitern, da sich die ausgelosten Geschworenen reihenweise aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen ließen. Sie taten dies aus durchaus berechtigter Angst vor Racheakten der Linksterroristen, und die allgemeine Empörung war groß, als es zu gelingen schien, den Staat und seine Institutionen derart zu erpressen. Diese Empörung nun teilte Sciascia nicht, er hielt zwar ein "dovere di non aver paura" (Sciascia 1979a, 102) für angebracht, verstand aber sehr gut, dass nur wenige bereit waren, diesen italienischen Staat zu verteidigen:

[A]nch'io avrei declinato l'onore e l'onere di fare il giurato. Quali garanzie [offriva] questo stato, non soltanto ai fini della protezione dei cittadini […], ma per quanto attiene all'applicazione del diritto, della legge, della giustizia? Quali garanzie dava contro il furto, l'abuso di potere, l'ingiustizia? Nessuna. (ivi)

Sciascia stellte sich damit Eugenio Montale zur Seite, der diese Haltung in einem Zeitungsinterview zuerst formuliert hatte; dem folgte eine breite Debatte, an der sich zahlreiche Intellektuelle und Politiker beteiligten. So schlossen sich Norberto Bobbio, Franco Fortini und Luigi Pintor Sciascias Rede von einem "stato in via di decomposizione" an, während Italo Calvino dem entgegenhielt: "lo stato è tutti noi" (zit. n. ibid., 101). Am heftigsten reagierte Giorgio Amendola vom PCI, der in einem Interview mit L'Espresso am 5. Juni 1977 sowohl die Laienrichter als auch die sie in Schutz nehmenden Intellektuellen wörtlich des Defätismus und der Feigheit bezichtigte (und damit den Titel eines Bandes lieferte, in welchem die gesamte Debatte nachzulesen ist: Coraggio e viltà degli intellettuali; Porzio 1977).

Vor diesem Hintergrund wird unschwer begreiflich, weshalb es Sciascia ein Jahr später, nach der Entführung Moros, so widerstrebte, sich an dem inszenierten "melodramma di amore allo Stato" zu beteiligen, wie er es in L'affaire Moro nennt (AM, 33), weshalb er die von Moravia artikulierte "dolorosa estraneità " (zit. n. Sciascia 1979a, XI) gegenüber diesen Vorfällen zunächst teilte. Dennoch war die – wenn auch in harter Polemik formulierte – Frage, die Aniello Coppola in Paese Sera stellte, nicht ganz unbegründet: "In questi giorni tremendi che stiamo vivendo, gli intellettuali abituati a sputar sentenze sugli umori segreti della coscienza pubblica, tacciono. Perché?" (Coppola 1978) Schlussendlich war es Sciascias "vecchia idea che bisogna ricercare la verità" (Sciascia 1979a, 131), die ihn dazu brachte, mit L'affaire Moro sein Schweigen zu brechen. Ehe wir diesen Text nun zur Hand nehmen, kurz eine Rekonstruktion dessen, worauf er sich bezieht.

55 Tage in Rom

Ich werde mich im Folgenden – mit wenigen Ausnahmen – auf die Fakten beschränken, die auch Sciascia schon 1978 bekannt sein konnten. Denn zum einen ist die Literatur zum Caso Moro und seinen Hintergründen und Zusammenhängen mittlerweile längst nicht mehr zu bewältigen, zum anderen nährt er einen ganzen Zweig der berüchtigten italienischen dietrologia, der Tendenz also "[di] assegnare ai fatti della vita pubblica cause diverse da quelle dichiarate o apparenti, ipotizzando spesso motivazioni segrete, con la pretesa di conoscere ciò che effettivamente 'sta dietro'" (Enciclopedia Treccani). Dass der Caso Moro dazu auch reichlich Anlass gibt, kann hier nur angedeutet werden, eine Aufarbeitung der mehr oder minder plausiblen Verschwörungstheorien, die sich rund um die Entführung und Ermordung Aldo Moros ranken, ist nicht Gegenstand dieses Beitrags.[1] Und zwar auch deshalb nicht, weil dies nicht zuletzt der Intention von Sciascias Text entgegenkommt, durch die aufmerksame Lektüre von Moros während der Gefangenschaft verfassten Briefen und Dokumenten zu einem Verstehen, zu einer 'tieferen' Wahrheit zu kommen. Vorausgeschickt seien demnach nur die wesentlichen Eckdaten; lesen wir die "pura cronica" in Sciascias Worten:

Il 16 marzo 1978, qualche minuto prima delle nove, l'onorevole Aldo Moro, presidente della Democrazia Cristiana, esce dal portone numero 79 di via del Forte Trionfale. Sono ad attenderlo la 130 blu di rappresentanza e un'alfetta bianca con la scorta. Il presidente deve prima recarsi al Centro Studi della Democrazia Cristiana e poi, alle dieci, alla Camera dei deputati, dove l'onorevole Andreotti presenterà il nuovo governo e ne dichiarerà il programma. Di questo nuovo governo, che sarà il primo governo democristiano sorretto anche dai voti comunisti, l'onorevole Moro è stato accorto e paziente artefice. Ma c'è inquietudine sia nel Partito Comunista, deluso dalla presenza nel nuovo governo di vecchi e non molto stimati uomini della Democrazia Cristiana, sia in quella parte della Democrazia Cristiana che teme il realizzarsi del cosiddetto compromesso storico. (AM, 26)

Aldo Moro wird keinen dieser Termine wahrnehmen: Ein Kommando der Brigate rosse hält den Konvoi an, tötet fünf Männer der Eskorte und entführt den christdemokratischen Parteivorsitzenden. Die nüchterne Bestandaufnahme des Kontextes dieser Entführung enthält bereits alle Elemente, die den Fall zu einer affaire gemacht haben: Obwohl das Leben Moros nämlich gerettet werden hätte können, die brigatisti am Schluss bereits zu äußersten Zugeständnissen bereit waren und auch einem rein symbolischen 'Gefangenenaustausch' zugestimmt hätten, behielt man bis zuletzt eine Position der Härte bei, eine fermezza, die sich bis zur intransigenza steigerte, und argumentierte damit, der Staat dürfe sich nicht erpressen lassen, zur Not müsse das Leben eines seiner höchsten Repräsentanten geopfert werden. Die pura cronica enthält auch deshalb 'alles', weil man in ihr unschwer lesen kann, dass es außerhalb des 'Volksgefängnisses' viele Kräfte gab, die kein Interesse daran hatten, dass Moro es lebend verließ.

 

Abb. 1. Via Fani in Rom, der Ort des Anschlags auf den Konvoi von Aldo Moro

 

Das Jahr 1978 ist ein Jahr der verschärften politischen Spannungen, die auch durch eine sprunghaft ansteigende Zahl von terroristischen Akten zum Ausdruck kamen: Bei 2.013 Attentaten wurden in Italien 31 Menschen getötet und 425 verletzt (cf. Feldbauer 1996, 97). In den Jahren zuvor hatte die Kommunistische Partei bei Wahlen stets dazugewinnen können und kam – mit ihren Verbündeten – der 50 Prozent-Marke sehr nahe. Eine linke Alleinregierung entsprach jedoch nicht den politischen Absichten ihres Vorsitzenden, Enrico Berlinguer, der gegen eine Konfrontation mit den Christdemokraten war und vielmehr eine antifaschistische Allparteienkoalition anstrebte. Mit dem Vorsitzenden der DC, Aldo Moro, hatte er einen 'Verbündeten', der die politische Krise des Landes ebenso auf breiter Basis lösen wollte und – gegen den Widerstand des rechten Parteiflügels – zu einem bestimmten Maß an Zusammenarbeit mit den Kommunisten bereit war, wenn auch mit der unverhohlenen Absicht, sie damit auch zu schwächen. Woran also beide arbeiteten, und was im Jänner 1978 gelungen war, ist der Compromesso storico: Erstmals seit 1947 kam ein Kabinett mit Duldung der kommunistischen Abgeordneten zu Stande, als Zugeständnis an den rechten Flügel der DC wurde deren Vertreter Giulio Andreotti zum Ministerpräsidenten. Diese Übereinkunft wurde von vielen Seiten kritisiert: Dass die radikale Linke einem solchen Bündnis nichts abgewinnen konnte, liegt auf der Hand, aber auch Leonardo Sciascia hielt es für fatal, da es in seinen Augen zur Bildung eines einzigen großen Machtblocks führte und jeglichen politischen Antagonismus in der Gesellschaft betäubte (cf. Sciascia 1989, 48).

 

Abb. 2. Der "compromesso storico", Rom am 28. Juni 1977

 

Moro jedenfalls war der Architekt dieser Übereinkunft, und selbst wenn er sie deshalb in gewisser Weise personifizierte, entsprach er sicherlich viel weniger dem 'Herz des Staates', das die Brigate rosse doch treffen wollten, als etwa Andreotti. Und kontraproduktiv, aus der Sicht der Brigate, war auch die allererste Konsequenz ihrer spektakulären Aktion, die sich doch gegen die Politik der nationalen Geschlossenheit wandte: Unter dem Eindruck der schockierenden Nachricht von Moros Entführung wurde Andreottis Kabinett ohne jede Debatte von beiden Kammern des Parlamentes angelobt. In L'affaire Moro heißt es dazu:

Si è come spostato il centro di gravità: dall'onorevole Moro, che usciva di casa ignaro dell'agguato, alla Camera dei deputati dove l'assenza dell'onorevole Moro avrebbe rapidamente prodotto quel che la sua presenza difficoltosamente avrebbe conseguito: e cioè quell'acquietamento e quella concordia per cui il quarto governo presieduto dall'onorevole Andreotti veniva approvato senza discussione alcuna. Al dramma del rapimento si è come sostituito […] il dramma che l'assenza dell'onorevole Moro dal Parlamento, dalla vita politica, è più producente – in una determinata direzione – della sua presenza. (AM, 27, Herv. i.O.)

Noch am selben Nachmittag riefen die Gewerkschaften einen Generalstreik aus, im ganzen Land fanden Kundgebungen gegen den Terrorismus statt, der PCI brachte in der Befürchtung, mit den Linksextremisten identifiziert zu werden, seine Distanz besonders schrill zum Ausdruck. Die Brigate rosse kündigten nach zwei Tagen an, Aldo Moro vor einem 'tribunale del popolo' den Prozess zu machen. Sie tun dies in einem comunicato, jener Textsorte, die neben den Briefen von Moro zum Angelpunkt auch von Sciascias Auseinandersetzung mit dem Fall werden. In seinen Briefen spricht sich Moro bald für Verhandlungen mit den Entführern aus, doch in der italienischen Öffentlichkeit bildet sich ebenso rasch eine breite Allianz, die jegliches Zugeständnis ausschließt. Aus dieser Front scheren neben Bettino Craxis Sozialistischer Partei nur wenige Einzelpersonen aus. Sciascia gehört nicht dazu; dies kommentiert er später so:

Mi è stato rimproverato di tacere o, meglio, mi si è accusato di tacere. Ora, se non ho detto niente è stato perché in quel momento non avevo niente da dire. Ero in preda alla confusione, mi sentivo assalire da una grande pietà e pensavo di dover render conto alla mia coscienza. (Sciascia 1979a, 131)

Lotta Continua lanciert einen Appell zur sofortigen Aufnahme von Verhandlungen, UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim interveniert und sogar Papst Paul VI. appelliert an die Entführer, Moro bedingungslos freizulassen. Doch die Christdemokraten bleiben vom verzweifelten Drängen von Moros Familienangehörigen ebenso unberührt wie vom Überlebenskampf, den der Gefangene mit seinen Briefen führt; man verlegt sich auf die Behauptung, er würde sie unter dem Druck seiner Entführer verfassen, Moro sei nicht mehr er selbst; seinen Anweisungen sei nicht mehr Folge zu leisten, obwohl er noch Vorsitzender der Partei ist: "Non è l'uomo che conosciamo", zitiert Sciascia aus einer Resolution von Partei-'Freunden', "con la sua visione spirituale, politica e giuridica che ha ispirato il contributo alla stesura della stessa Costituzione repubblicana " (AM, 106). Alle Beteuerungen Moros – "non ho subito nessuna coercizione, non sono drogato, [il mio] ragionamento fila come filavano i miei ragionamenti di un tempo" (zit. n. AM, 109s.) – bleiben fruchtlos, die DC lässt sich weder auf einen politischen Schwenk ein, noch beugt sie sich dem moralischen Druck, der auf ihr lastet: Mehrfach betont Moro, sich von seiner eigenen Partei zum Tode verurteilt zu sehen, in einem seiner letzten Briefe schreibt er: "Il mio sangue ricadrà su di loro", und bezeichnet sich als Opfer einer "strage di Stato " (zit. n. AM, 145).

Nach 55 Tagen – und 72.460 Fahrzeugkontrollen, 37.702 Hausdurchsuchungen, 6.413.713 Personenkontrollen, 150 Verhaftungen und 400 Festnahmen, womit 13.000 Beamte ohne konkretes Ergebnis befasst waren (cf. AM, 170) –, am 9. Mai 1978, hinterlegen die Brigate rosse den Leichnam von Aldo Moro im Kofferraum eines roten Fahrzeugs, welches sie in der via Caetani in Rom abstellen. Der Fundort befindet sich exakt auf halber Strecke zwischen der via delle Botteghe Oscure und der piazza del Gesù – den Adressen der Parteizentralen des PCI und der DC.

Zahlreich sind, wie bereits angedeutet, die mysteriösen Umstände rund um den tragischen Tod Aldo Moros. Vieles davon scheint bis heute im Dunkeln zu liegen. Giuseppe Ferrara spricht in Bezug auf diese mehr oder weniger begründeten Verschwörungstheorien in terminologischer Anlehnung an Umberto Ecos Medientheorie von "Apocalittici e integrati":

Da una parte, i sostenitori del complotto (i dietrologi apocalittici); nel centro quelli, diciamo così, astenuti; e dall'altra parte gli anticomplotto (gli integrati). Ne vengono fuori due partiti su opposte posizioni […] che riflettono grosso modo gli schieramenti politici del Paese. (Ferrara 2003, 9)

Es ist dies nicht der Ort, sich auf die eine oder andere Seite von Ferraras Spektrum zu schlagen. Es seien lediglich zwei Aspekte aus den "ombre del caso Moro" (Moro 1998) geholt, weil sie schon in Sciascias Pamphlet aus dem Jahr 1978 Thema sind.

Zum einen das Kommuniqué Nr. 7 der Brigate rosse vom 18. April. Es verkündet die erfolgte Hinrichtung von Aldo Moro und gibt den Ort bekannt, an dem sein Leichnam angeblich zu finden sei: am Grunde des Lago Duchessa, auf 2.000 Metern Höhe an der Grenze zwischen den Regionen Abruzzen und Latium. Weder sprachlich noch inhaltlich ist dieser comunicato mit den anderen der Entführer vergleichbar, er entpuppt sich relativ bald als eine Fälschung, möglicherweise um Moro zu signalisieren, dass man ihn nicht retten würde. Eine "lugubre mossa degli specialisti della guerra psicologica" nennen es die Brigate rosse in ihrem 'echten' Kommuniqué Nr. 7 (zit. n. AM, 87). Für Sciascia ist diese Episode, die für viele den Beginn des absurden Teils der Chronologie markiert,[2] Ausgangspunkt für Überlegungen über die Möglichkeit, dass diese Fälschung als ballon d'essai beiden Seiten nützlich war: um auszuloten, welche Wirkung die Nachricht von Moros Tod hatte, da er ja von den Entführern direkt, von der DC indirekt als zumindest denkbar eingeplant wurde.

Viel Mysteriöses rankt sich, zweitens, um das Memoriale Aldo Moros, jenen Aufzeichnungen also, die der Politiker in der Gefangenschaft anfertigte und welche die Brigate rosse zunächst zurückhielten, wohl auch ohne ihre politische Tragweite zu erkennen. Als sie später von den Behörden gefunden und veröffentlicht wurden, beteuerten – ohne gehört zu werden – inhaftierte brigatisti, dass die Ermittler Teile davon unterschlugen. Diese brisanten Seiten tauchten erst 1990 auf. Für manche spricht vieles dafür, dass die Antwort auf die Frage, warum Moros Gefängnis mitten in Rom trotz des enormen betriebenen Aufwandes nicht gefunden wurde, und die Ermittlungen derart ineffizient waren, sehr einfach ist:

Lo Stato era […] impreparato perché qualcuno, con una scelta politica precisa, si era adoperato a renderlo tale, perché, tanto per citare un esempio, durante tutto il periodo del sequestro, il Comitato interministeriale per la sicurezza insieme allo speciale "comitato politico-tecnico-esecutivo" […] furono popolati da generali e funzionari appartenenti alla P2. (Maori 1995, 94)

Oder, noch deutlicher: "Un capolavoro della P2" (Ferrara 2003, 96). Dies läuft auf die These hinaus, dass Moros Briefe auch versteckte Nachrichten an die P2 enthielten (cf. auch Moro 1998, 117ss.). Auf die in der Tat enthaltenen kryptischen Andeutungen wurde auch Sciascia aufmerksam: Moro verweist an einer Stelle etwa auf die Gefahr, "di essere chiamato o indotto a parlare in maniera che potrebbe essere sgradevole e pericolosa in determinate situazioni" (zit. n. AM, 41), und spricht von einem "doloroso episodio, dal quale potrebbero dipendere molte cose" (zit. n. AM, 42). Am 10. April 1978 formuliert Moro eine rhetorische Frage, die Sciascia bemerkenswert schien, doch was sie enthalten haben mochte, hat er nicht mehr erlebt. Moro fragt: "Vi è forse, nel tener duro contro di me, una indicazione americana e tedesca?" (zit. n. AM, 75) Ein Jahr nach Sciascias Tod, im Oktober 1990, wird der Skandal um die klandestine NATO-Organisation Gladio ausgelöst, die im Falle einer kommunistischen Machtübernahme Sabotage- und Guerilla-Aktivitäten organisieren sollte. Doch statt dieser 'apokalyptischen' Spur weiter zu folgen,[3] wenden wir uns nun Sciascias Text zu.

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Worum handelt es sich dabei eigentlich? Wir finden das Buch mal eingeordnet als "romanzo-saggio" (Ambroise 1996, 231), häufiger aber als "Pamphlet" (z.B. bei Harth 1998, 160); Giacobazzi spricht an einer Stelle schlicht von einem "Roman" (2000, 47). Dieses Oszillieren zwischen den Genres ist in Sciascias Werk häufig zu finden, doch L'affaire Moro nimmt in seiner Art "alla stregua d'un instant book" (Di Grado 1992, 37) in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung darin ein. Von Dominique Fernandez dazu ermuntert (cf. Traina 1999, 44), schreibt Sciascia L'affaire Moro in kürzester Zeit, noch "a caldo nel 1978" (Collura 2000, 266). 1979 nimmt er das Angebot des Partito Radicale an, auf dessen Liste als Abgeordneter ins römische Parlament einzuziehen, wo er dann der Untersuchungskommission zum Caso Moro[4] angehört, deren Ergebnisse er in einer Relazione di minoranza presentata dal deputato Leonardo Sciascia kommentiert. Dass dieser 'parlamentarische' Bericht den späteren Auflagen von L'Affaire Moro eingeschlossen wurde, macht hinsichtlich der Textsorten das "diaframma tra scrittura e politica" (Ambroise 2000, XLV) in der Tat obsolet.

Doch zunächst zur Methode, mit der Sciascia zu seinen Aussagen im Essay-Teil gelangt: Er liest. Er liest die Briefe, die Moro aus der prigione del popolo schreibt, und er liest sie mit dem ihm eigenen "rigore da filologo" (Traina 1999, 44). Dabei folgt er einer Grundannahme, die zu jener Zeit nicht mehrheitsfähig war: Moros Briefe sind ernstzunehmen, niemand hat ihn angehalten zu schreiben, was er schrieb. Die Zurückweisung seiner Texte, die Behauptung, Moro sei nicht mehr er selbst, kommt somit einer Aberkennung seiner Identität gleich:

Certo, è scomodo si sappia che Moro ha sempre pensato così; che non sono state le Brigate rosse, con sevizie e droghe, a convertirlo alla liceità dello scambio di prigionieri tra uno Stato di diritto e una banda eversiva. Ma c'è rimedio: e nemmeno occorre tanto affaticarsi per applicarlo. I giornali indipendenti e di partito, i settimanali illustrati, la radio, la televisione: sono quasi tutti lì, in riga a difendere lo Stato, a proclamare la metamorfosi di Moro, la sua morte civile. (AM, 63s., Herv. i.O.)

Die vielfältigen und durchaus unterschiedlichen Interessen in der politischen Öffentlichkeit, die allesamt zum Ergebnis haben, Moro der letztlich mörderischen Gewalt seiner Entführer zu überlassen, führten dazu, dass diese Öffentlichkeit mit den Briefen das nicht tun konnte und wollte, was Sciascia in L'affaire Moro tut: sie lesen, ihren Inhalt zur Kenntnis nehmen und Schlüsse daraus ziehen; denn Sciascia ist überzeugt davon, dass der Moro, der sie schreibt,

è in perfetta coerenza col Moro politico e col Moro docente che gli italiani hanno conosciuto per un trentennio: con la sua visione della vita, delle cose italiane, del corso della politica; col suo senso del diritto e col suo senso dello Stato. (ibid., 52)

In seinen Briefen bezieht sich Moro auf fünf Argumentationszusammenhänge: auf die unmittelbare politische Situation, auf seine Familie, der er entzogen wird, die ihn aber braucht, auf die Opfer, die er für die Democrazia Cristiana gebracht hat, auf die mysteriösen Zusammenhänge mit möglichen unangenehmen Enthüllungen und auf die freundschaftlichen Beziehungen, die er zu einzelnen Exponenten der Partei hat, und die Pflichten, die sich daraus ergeben. Sciascias penible Lektüre dieser Briefe sowie einzelner Kommuniqués der Entführer, seine Versuche, sie zu deuten und auch zu erkennen, was nur implizit darin zu lesen ist, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Sprache, und so ist das Thema Sprache ein zentrales Moment in L'affaire Moro.

Sintomi nella lingua

Dies kommt schon in dem einleitenden Abschnitt zum Ausdruck, in dem Sciascia diese Schrift Pier Paolo Pasolini zueignet, "come riprendendo […] una corrispondenza" (AM, 13), drei Jahre nach dessen Tod. Es sind gleich mehrere von Pasolini hinterlassene Motive, die Sciascia aufnimmt: Jener war es, der Moro in seinen Freibeuterschriften als den "meno implicato di tutti" bezeichnet hat (Pasolini 1975, 163), und der bekanntlich die Aufmerksamkeit auf die Sprache lenkte: "Come sempre (cf. Gramsci) solo nella lingua si sono avuti dei sintomi" (ivi). Was Sciascia mit Pasolini darüber hinaus verbindet, ist, dass er auch in diesem so (explizit) politischen Text der Kunst seines Schreibens verpflichtet bleibt, "denn es soll eine Position von ideologischer und politischer Relevanz artikuliert und gleichzeitig das Autonomieprinzip der Kunst nicht aufgegeben werden" (Giacobazzi 2000, 49). Und so lässt Sciascia sein 'Pamphlet' mit dieser scheinbar unpolitischen Passage beginnen:

Ieri sera, uscendo per una passeggiata, ho visto nella crepa di un muro una lucciola. Non ne vedevo, in questa campagna, da almeno quarant'anni: e perciò credetti dapprima si trattasse di uno schisto del gesso con cui erano state murate le pietre o di una scaglia di specchio; e che la luce della luna, ricamandosi tra le fronde, ne traesse quei riflessi verdastri. Non potevo subito pensare a un ritorno delle lucciole, dopo tanti anni che erano scomparse. (AM, 11)

Die Anspielung, die Reverenz ist offensichtlich und wird auch vom Autor umgehend aufgelöst. Sie bezieht sich auf einen berühmten Text von Pasolini, der im Februar 1975 unter dem Titel "Il vuoto del potere" in Italia im Corriere della sera erschien und als "L'articolo delle lucciole" in die Scritti corsari einging (Pasolini 1975, 156ss.). In diesem Text legt Pasolini sein Verständnis der von der Democrazia Cristiana verkörperten faschistischen Kontinuität in Italien dar, die für ihn auch in seiner Gegenwart noch gegeben ist, wenn sie auch in den 1960er Jahren eine entscheidende Wandlung erfahren hat. Für diesen Umbruch dienen ihm die verschwundenen Glühwürmchen als Symbol:

Nei primi anni sessanta, a causa dell'inquinamento dell'aria, e, soprattutto, in campagna, a causa dell'inquinamento dell'acqua (gli azzurri fiumi e le rogge trasparenti) sono cominciate a scomparire le lucciole. Il fenomeno è stato fulmineo e folgorante. Dopo pochi anni le lucciole non c'erano più. (Sono ora un ricordo, abbastanza straziante, del passato […].) […] Quel "qualcosa" che è accaduto una decina di anni fa lo chiamerò dunque "scomparsa delle lucciole". (ibid., 157)

Das Entscheidende an dieser scomparsa sei, dass keiner sie bemerkt hat: Die forcierte Industrialisierung der 1960er Jahre – für Pasolini ein Desaster 'anthropologischer' Dimension – hat das ganze Land und sein Wertesystem verschoben, die DC kann längst nicht mehr mit derselben Selbstverständlichkeit auf jenes Fundament bauen, das sie unverändert vom historischen Faschismus übernommen hat; ihre "uomini del potere" (ibid., 162) sind, ohne es zu merken, zu Masken geworden, welche jene Leere nur noch verbergen, die dem Text auch seinen ursprünglichen Titel gab. Das Bedrohliche daran sei, dass die Geschichte lehrt, dass eine solche Leere nicht von Bestand ist und gefüllt wird von einem apokalyptisch anmutenden, obskuren "potere reale" (ibid., 164). Und so gäbe Pasolini, neun Monate vor seinem (und drei Jahre vor Moros) Tod, "l'intera Montedison per una lucciola" (ivi). 1978 nimmt Sciascia dies also wieder auf: "Era proprio una lucciola, nella crepa del muro. Ne ebbi una gioia intensa" (AM, 12). Er stellt damit sein Werk ganz in das Zeichen seines toten Freundes: "Con Pasolini. Per Pasolini" (ivi).

Dessen zitierte Feststellung, dass die Symptome – wieder einmal – sich nur in der Sprache zeigten, macht er zur Richtschnur seines Textes: Er untersucht die Sprache, er sucht in der Sprache. Sie wird gewissermaßen zur Hauptfigur des 'Romans', wodurch er in seinem Werk nachvollzieht, was im Italien jener 55 Tage vor sich ging:

Emerge con chiarezza […] che la sola protagonista, nei giorni che seguirono al rapimento di Moro, fu la retorica; e gli italiani tutti (alfabetizzati e non) subirono il fascino del linguaggio politico […]: e cioè del dire con parole specializzate, per non dire nulla: e il dramma si consumava sotto gli occhi di tutti, ignari di quanto realmente accadesse. (Adamo 1992, 89, Herv. i.O.)

Denn das ganze dramma ist von diesem Umstand gekennzeichnet: Moro galt als besonders versierter Sprecher des politichese, einer Sprache, die – ähnlich dem Kirchenlatein – von der Kanzel der Politik erklang und gar nicht verstanden werden sollte; er war der Meister dieser Sprache und wurde zu ihrem Opfer. Über die Jahre hinweg, in denen die katholische Kirche begann, ihre Messen nicht mehr in Latein zu lesen, und die DC diesen Raum der Nicht-Kommunikation füllte – "il latino è incomprensibile per chi non sa il latino" (AM, 16) –, haben Moro und seine Parteifreunde eine Form von kodifizierter Verständigung untereinander gefunden, die Außenstehenden unzugänglich schien. Diese Verbindung fällt, wie wir sehen werden, paradox auf Moro zurück: "Ora sappiamo che la 'correlazione' era una 'contraddizione': e Moro l'ha pagata con la vita" (AM, 17). Tief verwurzelt in einer Unkultur des Sprechens ohne etwas zu sagen, ist er mit einem Mal der Möglichkeit beraubt, sich mitzuteilen, aus seinem Gefängnis kommunikativ nach außen zu treten. Moro durchlebt auf diese Weise einen "atroce contrappasso" (AM, 17), "dantescamente", wie Sara Gentile (1995, 62) ergänzt:

Un contrappasso diretto: ha dovuto tentare di dire col linguaggio del nondire, di farsi capire adoperando gli stessi strumenti che aveva adottato e sperimentato per non farsi capire. Doveva comunicare usando il linguaggio dell'incomunicabilità. (AM, 17, Herv. i.O.)

Wo just die Sprache ihrer kommunikativen Kraft verlustig geht, gerät der Bedrängte, dem nichts verbleibt als die letzte Hoffnung, mit zunehmend verzweifelten, aber auch resigniert verhärteten Briefen um sein Leben zu kämpfen, in eine ausweglose Situation. Die Kugeln, die seinen Körper am 9. Mai 1978 durchsieben, bewirken nur einen der Tode, die Moro stirbt. Schon vorher stirbt er einen Tod in der Sprache. Seine 'Freunde' von der DC berauben ihn einerseits seines Status als Sender, indem sie behaupten, er sei nicht mehr er selbst; sie exkommunizieren ihn aus dem kommunikativen Akt: "La scomunica è esclusione dallo scambio simbolico, negare a qualcuno quella possibilità significa renderlo oggetto di una sentenza di morte" (Ambroise 1996, 238). Und andererseits hat Moro nur noch die Sprache, doch die Aporie, in die sie ihn – von langer Hand, im Grunde – bringt, besteht darin, dass sie mitnichten die Macht hat, ihn aus seinem Gefängnis zu befreien, sondern dass sie vielmehr ihrerseits zu seinem Gefängnis wird:

Als isolierter, entmächtigter Mensch bräuchte er eine andere Sprache, eine Sprache, durch die er sich mitteilen und etwas bewirken könnte. Mit jeder Antwort, die er erhält, wird er aufs Neue verkannt: Da er unfrei ist, kann er nicht frei reden; deshalb ist derjenige, der die Briefe schreibt, nicht Moro selbst, sondern er redet mit der Stimme der Roten Brigaden, den Feinden des Staates. Ein Paradoxon ergibt sich aus diesem sprachlichen Dilemma: Wäre Moro er selbst, so müsste er sich gegen sein eigenes Leben und für die Staatsräson entscheiden (cf. Giacobazzi 2000, 42).

Es ist somit nicht das groteske tribunale del popolo der Entführer, das Moros Todesurteil fällt: "Muoio", schreibt er, "se così deciderà il mio partito […]" (zit. n. AM, 127). Die unklaren Andeutungen in seinen Briefen, von denen in Zusammenhang mit möglichen politischen Verschwörungsszenarien bereits die Rede war, lassen sich demnach auch als versuchter Gefängnisausbruch aus diesem Dilemma lesen: Aldo Moro kann nicht mehr so kommunizieren, wie er es gewohnt ist; er muss versuchen, darauf aufmerksam zu machen, er muss den kommunikativen Akt als solchen in den Mittelpunkt rücken. Er tut dies, indem er den referentiellen Gehalt dessen, was er zu sagen hat, künstlich umnebelt, dieser Verfremdungseffekt bringt die gewohnte Kommunikation ins Stocken. Moro kreiert eine mysteriöse und unzugängliche extralinguistische Realität, um sich gewissermaßen der Sprache, die ihn gefangen hält, zu entledigen, "um eine implizite, nicht in den Worten verankerte Kommunikationsebene zu schaffen" (Giacobazzi 2000, 43).

Es soll ihm nicht gelingen, diese Kommunikation wird nicht hergestellt; hierin besteht für Sciascia ein wesentlicher Teil der Tragödie. Und auch die Brigate rosse beherrschen die Sprache, die gesprochen wird, um gleichzeitig zu verbergen; die Gleichzeitigkeit des dire und nondire ist zudem ein Phänomen, das Gemeinsamkeiten mit dem Diskurs der Mafia aufweist (cf. Harth 1998, 161). Aus der "complicità dei pubblici poteri" (AM, 137), welche die italienische Öffentlichkeit resigniert voraussetzt, erwächst den Terroristen eine eigene Macht: "come la mafia si fonda ed è parte di una certa gestione del potere, di un modo di gestire il potere, così le Brigate rosse" (AM, 137). Sciascia weiß aber, dass niemand ernsthaft meinen kann, sie seien eine autonome Organisation, welche mittels eines revolutionären Kraftaktes die herrschenden Strukturen zerschlagen kann; vielmehr sei davon auszugehen, dass sie die "forze che già ci sono" (AM, 138) verschieben wollen: in den italienischen Machtverhältnissen ihre eigene Macht positionieren.

Exkommuniziert

Damit sind wir beim zweiten großen Topos: L'affaire Moro als "lucida analisi del potere" (Maori 1995, 82). Als für Moro am 13. Mai 1978 in demonstrativer Abwesenheit der Familie ein großes Staatsbegräbnis unter Aufbietung aller Honoratioren inszeniert wurde, verhöhnte man ein letztes Mal seinen letzten Willen, der da unmissverständlich gelautet hatte: "chiedo che ai miei funerali non partecipino né autorità dello Stato né uomini di partito" (zit. n. AM, 104). An anderer Stelle wird (er) noch deutlicher, wen beziehungsweise was er damit meint; Moro gelangt, wie Sciascia es formuliert, "alla denominazione giusta, alla spaventosa parola" (AM, 116): "Io non desidero intorno a me, lo ripeto, gli uomini del potere." (zit. n. AM, 113)

Moro wird in seinem Gefängnis der Macht beraubt, die er all die Jahre hatte und die er – zunächst – auch weiterhin zu haben glaubt; auf diese Weise, "denudato di potere" (AM, 129), lernt er sie aber erst wirklich kennen: die "diabolicità del potere" (AM, 129). Der Macht der Entführer ausgeliefert, muss er seine Briefe verfassen und sich dabei um eine neue Sprache und um Uneindeutigkeiten bemühen, zu denen er mit disziplinierter Selbstzensur gelangt: "disperatamente e lucidamente si autocensurò" (AM, 23), ohne dazu von den Brigate rosse explizit gezwungen zu werden, diesem Zwang höchstens zuvorkommend. Wie fern sind demnach für Moro die "macabre, oscene ore liete del potere" (AM, 116) in den Momenten, in welchen er am eigenen Leib das ganze Spektrum zu spüren bekommt, in welchem Machtausübung sich ihrem Objekt manifestiert: vom angesprochenen 'Ausschlussregime' zur unmittelbarsten Form der Machtausübung, der Macht zu töten: "Il potere è sempre potere di uccidere. La morte rende credibile il potere, dimostrandone l'efficacia" (Ambroise 1996, 133).

Mit Ausschlussregime meine ich die Macht über die Entscheidung des Dazugehörens, des Zugangs zu einem Kollektiv und zu seiner Identität; es überrascht nicht, dass Sciascia von der oben beschriebenen scomunica Moros durch die DC so beeindruckt war, denn es ist dies ein Motiv, welches ihn schon in anderen Werken beschäftigt hat. Am deutlichsten sticht dabei die Recitazione della controversia liparitana (Dedicata ad A.D.) (1969) ins Auge, jenes Theaterstück, in welchem ein kirchlicher Privilegienstreit im Sizilien des 18. Jahrhunderts unter anderem dadurch eskaliert, dass die Widersacher einander reihenweise exkommunizieren (cf. hierzu Pohn-Lauggas 2014, 329s.). Die im Titel enthaltene Widmung wiederum verdeutlicht, dass Sciascia unter dem Eindruck der Ereignisse des Prager Frühlings in Alexander Dubček einen von der 'kommunistischen Gemeinde' Exkommunizierten sah. Genau diese Parallele findet sich auch – noch deutlicher und dennoch geschliffener – im Roman Candido ovvero Un sogno fatto in Sicilia (1977), in welchem beide Helden vom Ausschluss betroffen sind: Candido Munafò aus der kommunistischen Bewegung und don Antonio aus seiner Kirche. Der in der KP gelandete Priester beteiligt sich nicht an der Abstimmung über Candidos Parteiausschluss: "quel modo di votare contro qualcuno molto somigliava allo scagliare una pietra: e quindi contro nessuno, mai, avrebbe alzato la mano" (Sciascia 1977, 96). So wie der Tod das endgültige Ausscheiden aus der Gemeinschaft der Menschen bedeutet, wird er von der scomunica, die eine Form des sozialen Todes bedeutet, vorweggenommen. Gegen Aldo Moro, ausgerechnet gegen den "meno implicato di tutti" (Pasolini, s.o.), scheute sich keiner den ersten Stein zu werfen.

Pietà

Was Aldo Moro in dieser seiner katastrophalen Lage vorenthalten wird, ist das Einfühlungsvermögen, in welchem Sciascia sich versucht; und die pietà, die in L'affaire Moro als Motiv häufig wiederkehrt. "Tentiamo di immedesimarci" (AM, 45), heißt es an einer Stelle, und über weite Strecken lebt der Text von der erfolgreichen Umsetzung dieses Versuchs: "Mi sono immaginato di essere al suo posto", wird Sciascia später erzählen (1979a, 132), und womöglich fiel ihm das gar nicht schwer, denn "der Moro Sciascias ist eine literarische Figur,[5] die dem Erzähler sicherlich sehr nahe steht: Beide betrachten die politische Wirklichkeit aus einer ähnlich isolierten, fern von Herrschaftsstrukturen liegenden Perspektive" (Giacobazzi 2000, 40). Sciascia denkt sich aber auch in jene Menschen hinein, die Moro gefangen halten und Tag um Tag mit ihm verbringen:

Forse perché sto cercando di capire anche loro. Di capire gli "uomini delle Brigate rosse" […]. Di capire quelli di loro che stanno a guardia di Moro e che lo processano: in quella difficile, terribile familiarità quotidiana che inevitabilmente si stabilisce. Nello scambiare parole, colloquiali o di accuse e discolpe. Nel consumare insieme i cibi. Nel sonno del prigioniero e nella veglia del carceriere. […] Tanti piccoli gesti; tante parole che inavvertitamente si dicono, ma che provengono dai più profondi moti dell'animo; un incontrarsi di sguardi nei momenti più disarmati […]; i silenzi – sono tante le cose, tanti i momenti, che giorno dopo giorno […] possono insorgere ad affratellare il carceriere e il carcerato, il boia e la vittima. E al punto che il boia non può più essere boia. (AM, 98s.)

In der Tat kommt einer der Henker an seine Grenzen, als er am 9. Mai 1978 dem letzten Wunsch Moros nachkommt und Franco Tritto, einen Freund der Familie, von der erfolgten Hinrichtung des Gefangenen telefonisch in Kenntnis setzt. Sciascia transkribiert dieses bemerkenswerte Telefongespräch, dessen Aufzeichnung zu Fahndungszwecken veröffentlicht wurde (und als Tondokument im Internet in Ausschnitten nachgehört werden kann), zur Gänze: Als nämlich Tritto vor Erschütterung außerstande ist, das Telefonat fortzusetzen, nimmt der brigatista trotz des eigenen Risikos und der objektiven Notwendigkeit, das Gespräch kurz zu halten, alle Rücksichten auf diese schwierige Situation: "Mi dispiace", sagt er, und meint es wohl so. Wiederholt nennt er den getöteten Moro, der in den Aussendungen der Brigate so oft grob beschimpft wurde, "onorevole" und "il Presidente". "Forse ancora oggi il giovane brigatista crede di credere si possa vivere di odio e contro la pietà", schreibt Sciascia über ihn, "ma quel giorno, in quell'adempimento, la pietà è penetrata in lui come il tradimento in una fortezza. E spero che lo devasti" (AM, 134). Der Caso Moro hat Sciascia verändert; so wenig Italien nach dieser zeitgeschichtlichen Zäsur dasselbe Land war wie zuvor, so wenig sind Leonardo Sciascia und seine Sicht auf dieses Land dieselben geblieben. Wenn der Gemeinplatz eines ‚pessimistischen' Sciascia Gültigkeit hat, so wird er in diesem Moment evident, in welchem selbst der Blick auf die pietà ein anderer wird. Im Interview mit Le Monde sagt der Autor:

Si contraddice anche lo scrittore; ed io mi sono contraddetto sul tema della pietà. Vent'anni fa ho scritto che, nei rivolgimenti civili, non si deve avere pietà; di fronte al caso Moro, ho rivendicato la pietà come il sentimento più alto. Ma bisogna dire che vent'anni fa credevo possibile che il mondo potesse cambiare; oggi non più. (zit. n. Collura 2000, 267)

 

L'Affaire Sciascia

Es ist offensichtlich, wie die Themen dieser Schrift sich nahtlos zu jenen der anderen Werke Sciascias fügen; zu den am häufigsten damit in Verwandtschaft gebrachten Texten gehört Todo modo. So fragt etwa Antonio di Grado, ob Sciascia mit L'affaire Moro nicht im Grunde eine Neufassung des 'philosophischen' Kriminalromans aus dem Jahr 1974 verfasst hat, "addensando labirintiche correlazioni a conferma della paradossale ragionevolezza di quelle espressionistiche oltranze" (1992, 37). Angesichts der Tatsache, dass Sciascias düsterste literarische Parabeln in der blutigen und beklemmenden Wirklichkeit der italienischen Zeitgeschichte wahr zu werden schienen, bestätigt der Schriftsteller hinsichtlich der ihm deshalb zuweilen zugeschriebenen prophetischen Gabe: "Ho cominciato ad avere paura dell'immaginare. […] Dopo la morte di Moro io non mi sento più libero di immaginare. Anche per questo preferisco ricostruire cose già avvenute: ho paura di dire cose che possono avvenire” (zit. n. Collura 2000, 271).

Auch L'affaire Moro ist Rekonstruktion, und der Autor betont seine "invincibile impressione che l'affaire Moro fosse già stato scritto, che fosse già compiuta opera letteraria" (AM, 25s.). Zu deutlich zeigen sich in diesem 'vorgefundenen' literarischen Werk seine Anliegen, als dass er darauf verzichten hätte können, die hermeneutische Deutungsarbeit – "qui soltanto si tenta di interpretare" (AM, 117) – stellvertretend zu übernehmen. "Tutti i nodi vengono al pettine. / Quando c'è il pettine." lautet ein berühmter Aphorismus Sciascias (1979b, 37) – und

ecco: si direbbe che, come, secondo Sciascia, "il caso Moro era un grande e terribile nodo venuto al pettine " [Zitat aus einem Panorama-Interview, Anm. IPL], così per lui la stesura dell'Affaire fosse l'"occasione" che lo costringeva a sciogliere un altro nodo […], il nodo in cui lungo gli anni Settanta s'erano congiunti e confusi alcuni temi della sua riflessione, d'una riflessione naturalmente non puramente teorica, ma che rimaneva indistricabile dalla sua autobiografia di scrittore e di lettore. (Compagnino 1994, 119)

E di intellettuale, möchte ich hinzufügen. So sehr sich Sciascia zunächst in Alberto Moravias Position erkannt hatte, wonach der Schriftsteller im Angesicht des Blutes verstummt, so sehr ist das Problem der Wahrheit in der Moro-Affäre zu seinem eigenen geworden (cf. Ambroise 2000, XLV). Es war nicht das mediale Kesseltreiben gegen sein anfängliches Schweigen, das ihn dazu bewogen hat, L'affaire Moro zu schreiben, genauso wenig brachte ihn umgekehrt die harsche Kritik zum Schweigen, mit welcher dem Text nach seiner Veröffentlichung begegnet wurde (cf. Collura 2000, 268ss.): Vor allem Eugenio Scalfari, Chefredakteur von La Repubblica, tat sich polemisch hervor, der darin einen Rachefeldzug eines sich verbittert missverstanden fühlenden meridionalen Kauzes sah. Eines der vielen und nicht das letzte Missverständnis des häretischen Intellektuellen Leonardo Sciascia (cf. Pohn-Lauggas 2012, 165s.). Die Debatten, in denen die Kontroverse um die 'intellettuali vili' wieder aufgenommen wird, machen aus dem Caso Moro eine Affaire Sciascia, wie sich der Kreis zur Geburtsstunde des engagierten Intellektuellen, zum Fall Dreyfus schließen lässt, der bekanntlich auch zu einer Affaire Zola wurde.

Die intellektuelle Autobiographie findet ihre Fortsetzung in Nero su nero, jenem diario in pubblico, der 1979 erscheint und Sciascias Interventionen des zu Ende gehenden Jahrzehnts in loser Folge sammelt. Dort ist der Caso Moro an ebenso vielen Stellen präsent wie in A futura memoria (se la memoria ha un futuro), der in gewisser Hinsicht vergleichbaren Artikelsammlung der 1980er Jahre, die zehn Jahre später, am Todestag des Autors erscheint. "Se non riusciamo ad arrivare alla verità sul caso Moro siamo veramente perduti" hatte Sciascia noch 1978 in der Monatszeitung Sicilia geschrieben (zit. n. Ferrara 2003, 222), und dieser Gedanke sollte ihn nicht mehr loslassen. In Nero su nero zitiert er noch einmal Aldo Moro:

"Ho un immenso piacere di avervi perduto" dice ai suoi amici di un tempo che gli sarà sembrato lontanissimo "e mi auguro che tutti vi perdano con la stessa gioia con la quale io vi ho perduti": parole che sembrano arrivare a noi dall'antica ed eterna tragedia del potere. (1979b, 260s.)

Die Entführung und Ermordung Aldo Moros hat bei der Gesamtschau auf die italienische Zeitgeschichte bis heute nichts an Brisanz verloren, das wird sich auch am bevorstehenden 40. Jahrestag wieder zeigen. Leonardo Scia­scias Affaire Moro gehört trotz der zeitbedingten Unkenntnis vieler Hintergründe, in der er den Text noch 1978 verfasst hat, und auch nach der Flut an Publikationen dazu, die jetzt wohl wieder anschwellen wird, zu den wichtigsten, den in seinem Sinne 'wahrsten' Beiträgen zum Thema.

 

 

Zitierhinweis:

Pohn-Lauggas, Ingo (2017), "Die zeitlose Tragödie der Macht. Vierzig Jahre Affaire Moro." In lettere aperte vol. 4, 73-88 [online https://www.lettereaperte.net/artikel/ausgabe-42017/311]

 

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Abb. 1. Via Fani (cc) https://www.flickr.com/photos/136879256@N02/23560142924

Abb. 2. Il "compromesso storico", (cc), https://upload.wikimedia.org/wikipedia/it/d/dd/Enrico_Berlinguer_%2B_Aldo_Moro.jpg

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