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“Ich habe auch immer alles verstehen wollen.“ Begegnung mit Gideon Bachmann

An einem lauen Herbstnachmittag öffnete mir ein adrett gekleideter Mann die Tür zu seiner Wohnung. Er trug ein limonengelbes Hemd mit kurzen Ärmeln, eine kakifarbene Hose, dazu weiße Stoffschuhe.
„Ich kann Ihnen Kaffee oder Wasser anbieten.“
„Gerne Kaffee.“
„Schauen Sie sich ruhig um. Sie dürfen gehen, wohin Sie möchten.“
 
 
Verdutzt von dieser prompten Aufforderung überreichte ich ihm das sizilianisches Gebäck, was ich mitgebracht hatte. Er nahm es verschmitzt lächelnd zur Kenntnis und verschwand in der Küche. So stand ich nun in der Wohnung von Gideon Bachmann.
Ehrfurchtsvoll schlich ich durch die Zimmer, während er den Kaffee bereitete, als plötzlich eine ältere Dame mit Einkäufen bepackt die Wohnung betrat.
”Das ist Nicole, eine langjährige Freundin, ich verbinde mit ihr eine Freundschaft von vierzig Jahren. Wir teilen die familiären Privilegien ohne dabei gebunden zu sein. Das ist sehr angenehm.“
Nicole steuerte auf Gideon zu und warf ihm eine der zwei Plastiktüten, die sie in den Händen hielt, auf den Schoß. Ein kurzer Blick hinein ließ ihn vergnügt glucksen.
”Das wird mich für einige Zeit am Leben halten. Komm! Setz dich her und iss etwas von den wunderbaren Sachen, die sie mitgebracht hat.
“Wortlos tat sie wie ihr geheißen, richtete ihren Blick auf mich, stellte die üblichen höflichen Fragen und verschwand dann barfuß mit Kaffee und Zeitschrift im Schlafzimmer.
 
Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und konnte keine Ruhe finden. Modelleisenbahnen, Perlenketten, malerische Fotographien nackter Frauen, Zinnkännchen, Bücher, kleine Truhen aus Holz, Briefe, Notizen, ein prall gefüllter Obstkorb. In diesem Sammelsurium konnte ich überall Hinweise auf das Leben eines Mannes entdecken, den ich nicht einzuordnen wusste.
Das Licht schien dumpf und angenehm. Vor den Balkonfenstern rankte sich eine grüne Kletterpflanze, die die Sicht nach Außen versperrte.
Diese Wohnung schien wie aus jedwedem Kontext gerissen und doch roch es verlockend alltäglich, nach Kaffee und alten Büchern.
 
 
Gideon nahm einen Bissen und schaute mich freundlich herausfordernd an.
”Wie kann ich Ihnen helfen?“
”Wie Sie wissen habe ich diesen Job am Museum. Ich ordne dort Ihr Stimmenarchiv. Jeden Tag höre ich die Gespräche mit den großen Filmemachern der Fünfziger und Sechziger Jahre, die sie überall auf der Welt geführt und aufgenommen haben. Dann erzählte mir jemand, dass Sie nicht hundert Meter entfernt wohnen von dem Museum in dem ich arbeite. Da konnte ich nicht anders als hierher zu kommen um Sie kennen zu lernen. Mir ist das alles noch wie ein eigenes Universum voller Bruchstücke und ich würde es gerne ganz machen, so begeistert bin ich von der Art wie Sie mit Leuten sprechen. Natürlich inspiriert es mich auch, die Meister des Kinos zu Ohren zu bekommen. Aber vor allem treibt mich die Neugierde zu Ihnen, ich möchte Sie gerne verstehen. Im Grunde will ich Sie einfach gern kennen lernen.““Ich verstehe. Ich habe auch immer alles verstehen wollen.”
Und dann begann er zu erzählen, wie er als kleiner Junge mit seinen Eltern aus Nazideutschland nach Palästina floh, dort aufwuchs und nach dem Sieg der Alliierten nach Europa zurückkehrte. Mit einer Fotokamera schlug er sich durch das zerstörte Nachkriegseuropa, immer dorthin, wo es ihm interessant erschien.
”Die Leute haben noch in den KZs geschlafen, auch wenn sie nicht mehr eingesperrt waren, aber sie wussten nicht wohin mit sich. Lastwagen mit Kleidungsspenden aus Amerika kamen dort an, wurden ausgeschüttet und dann nahm sich jeder. Ich nahm mir eine Uniform und lief seitdem mit dieser herum, jeder hat es geglaubt.“
Die Fotos die er dort geschossen hat, sind irgendwo in dieser Wohnung vergraben, das heißt die Negative. In Prag studierte er für ein Jahr, bis ihm der Kommunismus als Bedrohung erschien und es ihn weitertrieb. Mit listigen Methoden gelang ihm die Überfahrt nach New York, wo er Film studierte. Diese Stadt schien für eine Weile sein neues Zuhause sein zu können, bis er eines Tages den der Welt noch unbekannten Filmregisseur Federico Fellini in einem New Yorker Hotelzimmer zu dessen neuem Filmprojekt interviewte.
Gideon war hin und weg, bat ihm sogar seine eigenen schauspielerischen Künste dar, was Fellini mit einer gewissen Überheblichkeit zur Kenntnis nahm. Natürlich hatte er auch diese Begegnung ungeschnitten auf Band aufgenommen.
”Dieser Fellini hat ohnehin nach 8 1/2 keinen guten Film mehr gemacht. Der Weltruhm kam und die Thematik des Menschlichen im Menschen ging verloren.“
Dafür, dass er ihn so schimpft, muss er ihn aber doch mögen, denke ich mir, denn im Schlafzimmer hängt Fellinis eindrückliches Portrait.
 
”Ich kann jetzt nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählen, während ich dieses wunderbare Gebäck esse“, schmatzt er schmunzelnd. "Sie müssen mich schon mit Fragen in Bahnen lenken, wenn Sie etwas wissen wollen. Sie piken überall mal rein und dann geht eine ganze Welt auf. Das passiert mir immer öfter, dass mich Leute besuchen und mich fragen und ich bemerke, dass ich immer andere Geschichten erzähle. Immer mit einem anderen Schwerpunkt. Es kommt ja darauf an, was Sie wissen wollen. – Welches Sternzeichen sind Sie?“
 
Diese erste Begegnung mit Gideon Bachmann markiert den Beginn meines filmischen Portraits.[1] Ich besuchte ihn von nun an wöchentlich, wir freundeten uns an.
Er trug mir die Inventur seiner Wohnung auf und ich bat um die Erlaubnis, einen Film über ihn drehen zu dürfen. Mein ursprünglicher Gedanke, seine Biografie in Bildern zu erzählen, stellte sich aber von Besuch zu Besuch als immer schwieriger heraus.
Gideon war müde und bitter geworden, sein innerer Kampf hatte schon lange bevor wir uns begegneten waren begonnen. Und so wurde der Film zu einem Dokument der Begegnung eines alternden Kosmopoliten, der mit dem Tode ringt, und einer jungen Filmstudentin, die nach Geschichten sucht.
 

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Permalink: https://www.lettereaperte.net/artikel/ausgabe-52018/370

Bildnachweis: © Marie Falke