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Lettera aperta/ Offener Brief

Da saß er, in der ersten Reihe. Unübersehbar. Auf den Stock, zwischen seine Beine platziert, stützte er seine Hände. Den Körper nach vorne gebeugt, den Kopf leicht eingezogen und etwas vorgereckt, schaute er hoch wie aus einem Keller. Sein Gesichtsausdruck schien missmutig, misstrauisch, die ganze Erscheinung geradezu misanthropisch. Bemerkenswert waren seine Augen, eher hell, auf jeden Fall wachsam. Nicht nur die eines Beobachters, er taxierte auch. Mir schien, wir kamen dabei nicht besonders gut weg.

Wir, das heißt Fabien Vitali, damals noch Doktorand der Romanistik an der Universität in Hamburg, und ich, waren im April 2015 eingeladen zu einer Podiumsdiskussion anlässlich der Präsentation des Filmes 12 dicembre[1] von Pier Paolo Pasolini durch das Italienische Kulturinstitut in Stuttgart. Das – wahrscheinlich letzte noch existierende – Negativ hatte der LAIKA-Verlag – hier dank der monatelangen, europaweiten Suche unserer Kollegin Gabriella Angheleddu – gefunden. Es war in einem sehr schlechten Zustand. Der Film wurde vom LAIKA-Verlag digitalisiert und unter hälftiger Kostenaufteilung zusammen mit der Cineteca di Bologna restauriert. Seit 2014 ist er im Rahmen der Bibliothek des Widerstands, hier Band 30, wieder öffentlich zugänglich.[2] Mit uns auf dem Podium saß der Pasolini-Übersetzer Peter Kammerer, jahrzehntelang Professor für Soziologie an der Universität Urbino in Italien.

Peter Kammerer, der Gideon Bachmann lange kannte, stellte uns vor. Bachmann bezweifelte gleich, ob es sinnvoll gewesen sei, diesen Film, der von Giovanni Bonfanti und Pier Paolo Pasolini gemeinsam erstellt wurde, aber vor allem aus den Ideen von Pasolini entstanden und strukturiert worden war, unter dem Namen von Pasolini neu zu veröffentlichen. Es war sofort klar: Hier tritt jemand auf, der die Deutungshoheit über Pasolini beanspruchte.

 

Abb. 1. Gideon Bachmann im Gespräch mit Felix Ensslin (Hamburger Schauspielhaus, Oktober 2015)

 

Wir baten ihn, mit uns aufs Podium zu kommen. Er wollte nicht und lehnte ab. Wir mussten lange bitten. Am Ende kam er doch mit und hielt heftig gegen uns. Pasolini sei ein Dichter, ein Künstler, ein Filmemacher, aber nicht politisch gewesen. Die These war nicht wirklich haltbar und schien sich mehr gegen uns zu richten, die die Dreistigkeit hatten, ohne Bezug zu ihm etwas zu Pasolini definieren zu wollen. Egal was wir zu Pasolini vorbrachten, er widersprach. Gleichwohl schienen die zahlreichen Zuschauer des Films mit der Veranstaltung zufrieden zu sein.

Danach gingen wir essen, zusammen mit den Vertretern des Italienischen Kulturinstituts. Wir saßen uns gegenüber. Unser Verlag hatte sein besonderes Interesse geweckt. Im Lauf des Gespräches verwies er, immer gut dosiert, auf Einzelheiten aus seinem Lebenswerk. Der Mann war in jeder Hinsicht beeindruckend. Scharfsinnig, polyglott (sieben Sprachen soll er fließend beherrscht haben), mit allen bedeutenden Künstlern, Filmemachern und vielen anderen Personen des politisch-kulturellen Lebens der ersten Jahrzehnte der Nachkriegszeit befreundet oder bekannt, war ihm die Welt ein Ort, in dem er sich bewegen konnte und wollte – mit kategorischer Ausnahme aller arabischen Staaten; über sie wäre er nicht einmal hinweggeflogen. Seine Eltern waren rechtzeitig mit ihm vor den Nazis nach Palästina geflüchtet, wo er ab dem 9. Lebensjahr aufwuchs. Bachmann, so wurde aus seinen Erzählungen klar, sah sich nie als Kritiker oder Beobachter in der Welt dieser Künstler und Intellektuellen, sondern eher als deren Begleiter auf gleichem Niveau. Vor diesem Hintergrund tat es mir etwas leid, dass dieser Weltbürger zum Ende seines Lebens in der politisch-kulturell entleerten Beamtenstadt Karlsruhe gestrandet war. Wer mit Geist, will dort leben? Er fragte sich das selbst in unserem Gespräch, fast schon entschuldigend. Allein das 1989 gegründete ZKM (Zentrum für Kunst und Medien), das ihm dank Peter Weibel[3] im hohen Alter noch die Umsetzung eines Projekts ermöglichte[4], war sein Grund gewesen, in diese Stadt zu ziehen. Nun hielt ihn dort nur noch seine körperliche Hinfälligkeit. Und irgendwie im Gespräch geschah es, dass wir uns mochten. Ich jedenfalls ihn.

In unser Gespräch fiel auch Pasolinis letztes Filmwerk, Salò oder die 120 Tage von Sodom, jahrzehntelang unterdrückt, medial und polizeilich verfolgt. Er hatte Pasolinis Arbeit dazu begleitet; seine Frau, Deborah Imogen Beer[5], war dort Set-Fotografin (wie auch bei Filmen von Fellini, Antonioni, De Sica oder Bertolucci). Sie hat über 6000 Fotos vom Set der Salò-Produktion hinterlassen. Bachmann erzählte an diesem Abend, wie er dieses Aufführungsverbot des Filmes durchbrach. In Melbourne präsentierte er den Film anhand der Set-Fotos von Deborah Beer. Die Polizei, die auf die Beschlagnahmung des Films eingestellt war, wusste gegenüber den Fotos nichts zu tun. Die Wirkung war nicht minder groß, vielleicht aufgrund der Situation und der Aura, die ihre großformatige Projektion im Kino herstellten. Wir hatten an diesem Abend einiges angesprochen, die mögliche Publikation von Interviews, die bisher nicht oder nur auszugsweise veröffentlich waren, oft auch nur in Zeitungen, die kaum auffindbar waren. Aber seine listige Umgehung des Aufführungsverbotes von Salò hatte uns elektrisiert. Wir waren seit längerem mit Pasolini beschäftigt und wollten Teil einer öffentlichen Diskussion und Aktualisierung seiner intellektuellen wie seiner filmischen Arbeit sein. Gefragt, ob er bereit sei, diese politische Darstellung aus Melbourne in Hamburg zu wiederholen, stimmte er sofort zu.

 

Abb. 2. Plakat zur Pasolini-Veranstaltung im Hamburger Schauspielhauses mit Bachmann (Oktober 2015)

 

Wenige Tage später waren wir, das heißt diesmal meine italienische Kollegin Angheleddu und ich, bei Rita Thiele, der Chef-Dramaturgin des Hamburger Schauspielhauses und stellten ihr das Projekt vor. Eine mutige Frau. Sie ließ sich davon überzeugen. Hinzu kam, dass das Schauspielhaus gerade ein neues Format entwickelte, den F.A.Q-Room, um in wichtigen gesellschaftlichen Fragen auch mit den Mitteln der Bühne präsent zu sein. Wir bekamen, vorbehaltlich eines nachvollziehbaren Konzeptes, die Zusage, diesen Abend im Schauspielhaus gestalten zu können.

Drei Wochen später saßen wir zu dritt im Auto und fuhren nach Karlsruhe. Gideon Bachmann empfing uns in seiner Wohnung, die einem Museum glich. Anwesend war seine französische Freundin. Eigentlich waren es zwei Wohnungen, über eine Außengalerie verbunden. Er stellte sich als Sammler heraus, der mit großer Detailverliebtheit tausende Miniaturen von Zügen, Lokomotiven und Waggons, dazu Autos aller Art gesammelt hatte, die Tische und Wände seiner Wohnung besetzten. Allerdings sammelte er nicht für die Nachwelt. Fragen nach der Zukunft der Sammlung wischte er später einfach weg. Das interessiere ihn nicht. Er habe für sich gesammelt. Seine Sammlung bestünde aus Teilen vieler anderer, dann wieder aufgelöster Sammlungen und so werde es auch mit seiner ergehen. Nicht die Dinge werden verschwinden, nur ihre Organisierung durch ihn. Er wollte seine Arbeit nicht als Last der Nachwelt übertragen. Neben hunderten von Fotos mit den bekannten Künstlern und Intellektuellen der fünfziger bis achtziger Jahre, viele mit ihm zusammen, und unübersehbaren freizügigen Fotos aus seinem Beziehungsuniversum. Überall Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, Kartons mit Interviewbändern oder Manuskripten und auf der Galerie ein überlebensgroßes Bild, kartoniert, von Pasolini sulla scala, einem Set-Foto aus Salò oder die 120 Tage von Sodom von Deborah Beer. Aus Fotokoffern holte er einen Teil der großen Fotos heraus, die seine Frau gemacht hatte, aber auch Fotos, die er selbst erstellt hatte. Dass er selbst auch als Fotograf gearbeitet hat, war ihm wichtig. Die ganze Wohnung enthielt das Material für unzählige Facharbeiten und Dissertationen. Unten im Hof stand sein kleiner roter Alfa Romeo Spider, das gleiche Modell, das Pasolini gefahren hatte. Es bedeutete ihm viel. Am nächsten Morgen besuchten wir ihn erneut. Er hatte Lust auf die Zusammenarbeit mit uns, stellte aber in Frage, dass er den Abend im Schauspielhaus, der in unserer Fantasie schon perfekt gestaltet schien, alleine gestalten könne: "Ich bin kein abendfüllendes Programm." Er war damals 88 Jahre alt. Und er stellte Forderungen nach Honorar, Unterkunft und Versorgung, die wir ihm einfach zusagten und später mit dem Schauspielhaus aushandelten.

Nachdem wir den Vertrag mit dem Schauspielhaus geschlossen hatten, wuchsen bei ihm die Zweifel, ob er alles erfüllen könne. Auf einmal tauchten politische Bedenken auf: Wir würden Pasolini politisch für uns einsetzen – was auch immer dieses für uns sein sollte. Zwischendurch sagte er mehrfach komplett ab. Auch begründete er seine nun auftretende Weigerung mit der Angst, seine Rentenzahlungen aus den USA verlieren zu können wegen einer Zusammenarbeit mit mir und einer möglichen Bestrafung durch die USA. Plötzlich sah er, der wusste, dass er keine großen Reisen mehr machen konnte wegen der damit verbundenen Strapazen, ein Einreiseverbot auf sich zukommen. Aber es war eigentlich keine Angst bei ihm herauszuhören, sondern eine Widerständigkeit, die einzuschätzen nicht einfach war. Ich habe ihn in den nächsten Wochen und Monaten unendlich oft angerufen und wir haben gefühlt weit mehr als 100 Stunden telefoniert. Jedes Gespräch endete damit, dass doch wieder alles offen war. Nur in einem blieb er kategorisch: dass er kein abendfüllendes Programm sei.

Für uns drei wurde klar, dass wir das Konzept ändern müssten. Wir hatten uns generell mit dem filmischen Werk von Pasolini beschäftigt und seit längerer Zeit besonders mit Salò. So entschieden wir uns, den Abend zu teilen und selbst mit den Bildern von Deborah Beer zu arbeiten und den Abend in ein Gespräch mit Gideon Bachmann münden zu lassen. Aber wer sollte mit ihm diskutieren? In Absprache mit Fabien Vitali und Gabriella Angheleddu rief ich Felix Ensslin an, mit dem mich seit langem eine Freundschaft verbindet. Wir verabredeten uns in Köln, diskutierten unser Projekt und er, der selbst gleich fasziniert war von den Möglichkeiten, mit den Set-Fotos zu arbeiten, sagte uns zu.

Die nächsten Monate verbrachten wir damit, unsere Reflexion zu Salò oder die 120 Tage von Sodom zu entwickeln. Eine Diskussion und ein Text folgten dem anderen. Gleichwohl war die Zeit knapp. Die Idee, die im April 2015 entstanden war, sollte im Oktober 2015 aufgeführt werden. Jede/r von uns hat seine/ihre Urlaubszeit damit vollständig verbracht. Gabriella Angheleddu klickte sich zur Vorauswahl durch die Tausende von Fotos von Deborah Beer, zu deren Nutzung wir dank der Kooperation mit Riccardo Costantini von Cinemazero berechtigt waren. Nach Rückkehr aus dem Urlaub nahm die erste Version Gestalt an. Ebenso unterstützte uns Roberto Chiesi von der Pasolini-Gesellschaft in Bologna. Von ihr bekamen wir die restaurierte Fassung von Pasolinis Film, die einen Tag nach der Aufführung im Schauspielhaus im Hamburger Kino Abaton uraufgeführt wurde, im gefüllten Saal mit einem Diskussionsbedürfnis, das weit über Mitternacht hinausreichte.

Am 25. Oktober 2015 kam Gideon Bachmann in Hamburg an. Am 26. Oktober fand die Salò-Reflexion im Schauspielhaus statt, beeindruckend vorgetragen von den beiden Schauspielern Ute Hannig und Markus John, mit anschließender Diskussion zwischen Felix Ensslin und Gideon Bachmann. Auch hier zeigte sich, dass der Mann nicht bereit war, sich einfach leiten zu lassen. Vor Beginn dieser Diskussion, nach einer Pause, nach der der Saal genauso gefüllt war wie vorher, dankte uns Gideon Bachmann und erklärte, dass unsere Reflexion den Film vielleicht zum ersten Mal verständlich gemacht habe. Wir waren unendlich erleichtert. Monatelange Zweifel und Widerständigkeit von Gideon Bachmann waren wie weggewischt und wandelten sich in Vertrauen um.

 

Abb. 3. Diskussion im Hamburger Schauspielhaus (v. l. Gabriella Angheleddu, Karl-Heinz Dellwo,

Felix Ensslin, Gideon Bachmann, Fabien Vitali)

 

Am nächsten Tag reiste er nach Berlin zu "meiner Freundin", wie er sagte. Ella Rollnik und ich holten ihn in Hamburg im Hotel ab und brachten ihn zum Zug. Zwei Tage später rief er mich an und bat um Hilfe. Er könne dort nicht bleiben. Sie hatten sich offensichtlich gestritten. Von Berlin aus sollte er nach Italien fliegen, um eine Veranstaltungsreihe zum 40. Todestag von Pasolini zu absolvieren, ein großes Unterfangen. Von Hamburg aus beschaffte ich ihm ein Hotel in der Nähe des Flughafens und besorgte ihm ein Taxi, dessen Fahrer ihn in der Wohnung seiner Freundin abholte. So kam er dann auch zwei Tage später rechtzeitig zum Flughafen. Wenige Tage danach sind wir nach Italien nachgereist. In der Cineteca di Bologna gab es die Uraufführung der gemeinsam restaurierten Fassung von 12 dicembre in Italien. Dort trafen wir Gideon Bachmann wieder. Es schien, als wartete er auf uns. Er fand sich dort allein und mit uns kam für ihn die Sicherheit, dass er sich an jemand wenden konnte. Längst war er gehbehindert und machte sich schon Tage vor jedem Abflug Sorgen, wie er zum Flughafen anreisen kann und dass er dort mit einem Rollstuhl abgeholt und zur Maschine gebracht wird. Auch gab es andere Probleme, Differenzen in Bezug auf eine geplante Veröffentlichung, einem Interview von ihm, an dem etwas geändert werden sollte. Pasolinis Cousine und Rechteverwalterin, Graziella Chiarcossi, diskutierte lange mit ihm darüber. Wir saßen den ganzen Nachmittag im schönen Hof der Cineteca zusammen und hatten viel zu besprechen. Am Ende gingen wir gemeinsam Essen und Bachmann schien den Kreis um sich zu genießen. Am nächsten Tag flogen wir nach Hamburg zurück und er nach Karlsruhe.

Wir haben noch öfter miteinander telefoniert. So lange er es gesundheitlich schaffe, würde er sich an jedem Projekt beteiligen, zu dem ich ihn einladen wolle, ließ er mehrfach verlauten. Ich habe das gerne gehört. Nie wieder war Misstrauen aufgekommen. Das letzte Mal sahen wir uns, als wir, Ella Rollnik und ich zum Sommerende 2016 aus Italien zurückkehrend ihn in Karlsruhe besuchten. Seine Wohnung lag über einem italienischen Lokal, mit dessen Wirt er befreundet war. Hier aßen wir gerne zusammen. Im letzten Augenblick sagte er das Essen ab. Es gelang ihm nicht, die Treppen hinunterzusteigen. Wir haben ihn dann in seiner Wohnung aufgesucht. Etwas Besonderes war geschehen. Er hatte am Morgen seinen Alfa weggegeben. Eine Symbolhandlung, wie ein grundsätzlicher Abschied aus seinem bisherigen Leben. Er war zu der Einsicht gekommen, dass er nie wieder selbst Auto fahren würde. Während unseres Besuches rief seine Berliner Freundin an. Er teilte ihr mit, dass wir zu Besuch seien und sie ja das Ende der Beziehung gewollt habe und beendete das Telefonat etwas schroff. Körperlich hatte er abgebaut, er schien um Jahre gealtert. Seit 14 Tagen konnte er sich nicht mehr auf seine Beine stützen. Plötzlich sackte er in seinem Stuhl zusammen und begann tief erschüttert zu weinen. Er ließ sich aber auch halten. Wut und Ohnmacht über die Agonie des unumkehrbaren Verfallsprozesses hatten sich vermischt und ihn, der bisher über die Autonomie seines Lebens verfügt hatte, für einen Moment überwältigt. Nachdem er sich wieder etwas gefasst hatte, stellte er vehement die Forderung an mich, dass ich ihm eine Waffe besorge. "Du kannst das oder Willi kann das auch", womit er auf meinen Verlagskollegen Willi Baer hinwies, mit dem er lange zusammengearbeitet hatte, mit dem er aber auch zerstritten war. Er wollte wieder Herr seiner selbst werden. Auch wenn ich dieses Recht im Grunde jedem Menschen zugestehe, war ich nicht bereit, auch nur mittelbar für seinen Tod verantwortlich oder mitverantwortlich zu sein. Zu sehr schien er mir auch von einer Mischung aus Wut und Ohnmacht darüber bestimmt zu sein, dass das Leben nicht mehr so sein kann, wie er es haben will. Ich habe versucht, ihn von diesen Gedanken abzubringen, aber mein Trost war eher hilflos und nicht ehrlich. Sein Hineinfallen in die Ohnmacht kam für mich zu schnell. Später habe ich mich an Freunde von ihm aus der Filmbranche gewandt in der Hoffnung, dass sie einen Vorschlag haben, ihm zu helfen. Ich bin aber hier auf keine konstruktive Haltung gestoßen. Viele schienen mit ihm noch etwas abzurechnen zu haben.

Gideon Bachmann ist am 24. November 2016 in einem Karlsruher Krankenhaus gestorben. Ich habe erst später von seinem Tod erfahren wie unsere ganze Gruppe. Mit Fabien Vitali und Ella Rollnik haben wir an der Gedenkfeier im Februar 2017 teilgenommen, die das ZKM ihm zu Ehren organisierte. Es war eine gute Feier. Er hat, wie ich dort erfuhr, im Krankenhaus in einer bestimmten Situation um Hilfe zum Leben gebeten. Das hat mich getröstet.

Ich konnte Gideon Bachmann über einen Zeitraum von weniger als zwei Jahren kennen lernen. Ich habe einiges über ihn gelesen, über seine Arbeit und seine Bedeutung. Von meinem Kollegen und Freund Willi Baer habe ich mir über den Konflikt zwischen ihnen berichten lassen. Es scheinen Konflikte zu sein, die er auch mit anderen hatte. In den Beziehungen unter Menschen kann jede Seite immer nachvollziehbare Gründe geltend machen. Ich will davon nicht beeinflusst sein. Der Gideon Bachmann, den ich kennengelernt habe, war nicht einfach. Aber kein Mensch sollte einfach sein. Er war aber ein beeindruckender Mensch, den man schätzen konnte und ich habe ihn sehr geschätzt und auch gemocht. Ich hätte gerne mit ihm noch mehr Zeit verbracht und seine Misanthropie beobachtet, die eigentlich das Gegenteil war: Denn ihr lag eine Vorstellung vom Wert des menschlichen Lebens zugrunde, den das Leben hat und haben kann, wenn es nicht durch die falschen Grundlagen der Gesellschaft missbraucht, ausgebeutet und vernutzt wird. Er hatte dieses Privileg, das ihm zustand und das er offenkundig auch ausnutzte, das aber ungerecht bleibt, so lange es nicht generell für alle Menschen gilt.

 

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Bildnachweis: © Marie Falke