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“Von Anekdoten mit seriösem Unterton“: Ansichten eines Außen- und Innenseiters – Bachmann als Filmkorrespondent für die deutsche Zeitung (1960-1970)

Neben den zahlreichen Zeitungsartikeln, die der Filmjournalist Gideon Bachmann als Auslandskorrespondent für den Kulturteil der Zeitschriften Der Tagesspiegel, Die Zeit, die FAZ sowie für die Schweizer NZZ in den 60er und 70er Jahren verfasste, geben auch seine Briefkorrespondenzen mit dem deutschen Filmsoziologen Siegfried Kracauer sowie mit den deutschen Verlagen Piper und Merkur, die sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach befinden, Aufschluss über sein Wirken und seine Hartnäckigkeit als Beobachter und Kritiker der Filmkultur. Die Beiträge Bachmanns behandeln primär das italienische Kino, allerdings berichtete er ebenso über die internationale Filmbranche, wie seine Artikel über das Underground Cinema, die Filmfestspiele in Europa und die Filmproduktion in den Ostblocklockländern, Griechenland, Schweden und Australien bezeugen. Nicht außer Acht zu lassen sind seine englischsprachigen Artikel und Interviews, veröffentlicht in den Publikationsorganen wie The Nation oder Film Quarterly, sowie die Gründung seiner eigenen Zeitschrift Cinemages im Jahr 1955, die Bachmann 1958 als ein kleines und unabhängiges Projekt definiert, welches von Sponsoren wie unter anderem Jean Renoir finanziert wird[1]: “We are a very small, non-profit undertaking, and the only way we sell Cinemages is by subscription and through a few specialized bookstores.”[2] Der experimentelle und innovative Charakter von Cinemages[3] gilt ebenso in Bezug auf die deutschen Artikel Bachmanns, da diese stets von dem Bemühen gekennzeichnet sind, Person und Künstler als Ganzes zu verstehen, anstatt nur den jeweiligen Kultstatus der der italienischen Regisseure, die Bachmann in den Fokus nimmt, hervorzuheben.

Berichte Bachmanns über die Situation und die Akteure der Filmbranche

In seiner Tätigkeit als Korrespondent für den Berliner Tagesspiegel und den 27 Artikeln, die er in den 60er und 70er Jahren im Kulturteil, bzw. der Rubrik ’Filmspiegel’ veröffentlichte, offenbart sich der unerschöpfliche (Quäl)Geist des Reporters und Dokumentarfilmers. Doch letzterer ist nur eines der Merkmale, die Bachmanns Stil, welcher hier im Folgenden untersucht werden soll, kennzeichnen. Bachmanns Schreibstil zeichnet sich sowohl durch Nähe als auch durch Distanz zum behandelten Sujet aus. Als Betrachter von außen behält er einen nüchternen Blick, er zählt Fakten zu den jeweiligen Produktionen auf, etwa wie hoch die Gehälter sind oder wie lange gedreht wird:

Und die Produktion steigt, im letzten Jahre entstanden 238 Filme, zu einem Durchschnittspreis von 430 Millionen Lire, also 1,6 Millionen Franken pro Stück, eine Industrie mit einem vergänglichen Illusionswert von jährlich etwa 400 Millionen Franken also. 80 dieser Filme waren Koproduktionen.“ (“Hochtouren oder Leerlauf? Erhöhte Filmproduktion in Italien“, NZZ, 22.08.1975)

Seine Leser lässt er ebenso an den Debatten um den jeweiligen Film und den betreffenden Regisseur teilhaben: “Seit zwei Wochen dreht Federico Fellini in Rom seinen neuen Film, Casanova. Auf die Frage, wieviel er für diese Arbeit bekommt, die während einer gemeinsamen Pressekonferenz an den Produzenten des Films, Alberto Grimaldi, gerichtet wurde, hat Fellini lachend gesagt: ’Wenn er sagt, wieviel ich bekomme, gehe ich’“ (Hochtouren oder Leerlauf? Erhöhte Filmproduktion in Italien, NZZ, 22.08.1975). An Anekdoten nicht sparsam, stets im Stil der spontanen Paraphrase, vermittelt Bachmann seinen Lesern ein greifbares und auch menschliches Bild der ’Großen’ im Filmbusiness fernab von ihrem Kultstatus: “Überhaupt drehe er nie einen Film nach einer genauen Idee, sagte er [Fellini] mir kürzlich, da seine Ideen ja immer wie diejenigen aller Menschen im dauernden Wechsel begriffen wären […]“ (“Traumwirklichkeit, Mythologie und Psychoanalyse Fellinis Giulietta degli Spiriti“, NZZ, 18.06.1965). Mit seiner Rhetorik der Spontaneität und Direktheit erweist sich Bachmann nicht einfach als Voyeur, der gegenüber seinem Gegenstand Distanz wahrt, sondern stellt sich selbst als ein Insider der Filmbranche dar, der gesellschaftliche Ansichten und Autobiografisches der Regisseure – Werk und Autor – in einen größeren Gesamtzusammenhang mit dem Kino bringt. “Und wer die Familie Fellini ein wenig kennt, wer z. B. weiß, daß im Hause Fellini seit einem Jahr Spiritistenseancen abgehalten worden, daß die Namen der Dienstmädchen im Film mit denen im Fellini-Haushalt übereinstimmen […] dem wird es schwerfallen, Fellini ganz von diesem Verdacht [der autobiographischen Präokkupation] freizusprechen.“ (“Traumwirklichkeit, Mythologie und Psychoanalyse Fellinis Giulietta degli Spiriti“, NZZ, 18.06.1965). Ein weiteres Beispiel für die Aufhebung der Distanz zwischen Leser und Filmstar ist ein Artikel über den Schauspieler Marcello Mastroianni: “Römischer Schulbub – ein Gespräch mit dem Schauspieler Marcello Mastroianni“.

Man kann natürlich, wenn man etwas von Marcello Mastroianni will, auch offiziell vorgehen. Mit Anmeldung, Telephonanrufen, Visitenkarten, der in Rom üblichen Verspätung und dem Rest der herkömmlichen Höflichkeiten. Es ist aber leichter, anzurufen und einfach nach Marcello zu fragen; zum Beispiel, ob er schon auf-sei (wenn es vor elf Uhr ist) oder noch da (wenn es nach sechs Uhr abends ist). („Römischer Schulbub. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Maccello Mastroianni“, Tagesspiegel, 30.04.1967)

Es ist die intime Einsicht in das Privatleben der Schauspieler, in die politischen Ansichten der Regisseure Italiens der 60er und 70er Jahre, die Bachmann zu einem Schöpfer von Mythen macht. Dies zeigt insbesondere sein Artikel in der Zeit aus dem Jahr 1976, in welchem er Pasolini als einen Propheten für eine Denk- und Filmkultur stilisiert: “Pasolini kam aus der Wüste wie alle Propheten: aus der Wüste unserer Industriekultur, aus den Armenvierteln, aus denen er sich langsam hocharbeitete.“[4] (“Sodom oder das stilisierte Grauen. In dieser Woche wird vorerst nur in Deutschland der Film ‚Salo’ erstaufgeführt“, Die Zeit, 30.01.1976). “Früher hätte man ihn verbrannt“, sagt Bachmann in diesem Artikel, bzw. Nachruf nach dem Tod des umstrittenen Filmregisseurs. Dessen Störfunktion in der italienischen Gesellschaft durch seinen “sakralen Marxismus“ und seine Homosexualität stellt Bachmann seiner asketischen und menschenzugewandten Lebensweise gegenüber: “Sein Leben mit Mutter und Kusine in einer einfachen Wohnung am Rande Roms, seine Arbeitsroutine, seine Verlässlichkeit und Bescheidenheit im mondänen Film-Milieu waren in Rom allbekannt, und er war auch nicht, wie andere Regisseure, immer von einem beschützenden Stab umgeben. Er sprach mit allen, die zu ihm wollten […]“. (“Sodom oder das stilisierte Grauen“, Die Zeit, 30.01.1976). Nicht zuletzt spart Bachmann keineswegs mit der Kritik an den Medien, für die er selbst auch tätig ist: “Pasolini hat aus seiner Lebensart nie ein Geheimnis gemacht; das einzige Rätsel an seinem Leben ist sein Tod. Nun will ihm die Weltpresse den Spieß umdrehen; ihm das Leben zum Rätsel stempeln, um es dann großzügig aus der Archiven wiederzuentdecken […]“. (“Sodom oder das stilisierte Grauen“, Die Zeit, 30.01.1976).

 

Die Frage, warum Bachmann immer wieder alle wichtigen Filmfestspiele der Welt bereist und ob er es nicht einmal satt sei, bejaht er in einem Artikel aus dem Jahr 1962. Er tue es aber trotzdem – immer wieder zu den gleichen Festspielen, er ertrüge sogar „dasselbe Stöhnen der nichtpreisgekrönten Produzenten und Stars“, dennoch gäbe es eine Motivation für all diesen Aufwand:

Die Antwort ist einfach: Ich reise aus Hoffnung. Bei der endlosen Vermehrung der Festivals ist es klar, daß die guten Filme bei einzelnen Festspielen immer seltener werden. Aber die Hoffnung bleibt bestehen. Die Hoffnung, wieder einmal, wie es in meinem Leben schon vier- oder fünfmal passiert ist, einen Film zu entdecken, der ein wirkliches Kunstwerk ist, der wirklich sehenswürdig ist. Solch ein Kunstwerk lohnt die ganze Mühe und den ganzen Aufwand an langweiligen Cocktailparties und verpaßten Flugzeugen. Und selten, ganz selten, passiert es auch. Aber man kann es nie vorher wissen, und die einzige Möglichkeit, es nicht zu verpassen, ist eben, alles zu sehen. („Lohnt sich das ewige Herumreisen? Reisen von Festival zu Festival ermüden, doch immer wieder locken Filmfestspiele, Tagesspiegel, 4.11.1962)

Einerseits lässt sich Bachmann durch diese absolute Neugier und Hartnäckigkeit charakterisieren. Er widmet dem Geschehen der Filmbranche seine volle Aufmerksamkeit – ein Leben lang. Dass er neben dem unerschöpflichen Arbeiten als Reporter auch die Allüren eines Filmstars aufweist, zeigt beispielweise seine Scheu vor Übersetzungen ins Deutsche.

“…und meine Bemerkung war nicht kokett gemeint“. Bachmann, Außenseiter und Theatraliker

 

Abb. 1. Brief vom 19.3.1974 aus Rom an Hans Paeschke, Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Merkur" (Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Bestand: D: Merkur)

 

Bereits in den 60er Jahren korrespondiert Bachmann mit dem deutschen Journalist Hans Paeschke des Merkur Verlags und schlug diesem – nicht ohne Selbstlob – vor, ein Referat zu veröffentlichen, welches er am Münchener Institut für Film und Fernsehen gehalten hatte: “Schon am Tage des Referats war von verschiedener Seite vorgeschlagen worden, dasselbe als grundsätzlichen Beitrag zur Filmsituation im heutigen Deutschland zu veröffentlichen.“[5] Nichtsdestotrotz drängt sich hier nicht das Motiv der egozentrischen Selbstdarstellung in den Vordergrund, im Gegenteil, das Motiv ist stets ein grundsätzlicher Beitrag, eine Analyse der aktuellen Situation, ein Hinterfragen der Filmbranche. Die Publikation seines Beitrags scheiterte jedoch an der Übersetzung. Gründe hierfür waren, dass Bachmann seine Aufsätze auf Englisch schrieb, einer Sprache, die ihm, wie er stets betont, “geläufiger“ sei[6] und das Projekt aufgrund von etlichen Aufschiebungen im Sande verlief.[7]

Etwa 10 Jahre später, im Jahr 1974, ein erneuter Briefwechsel. Dieses Mal erwähnt Bachmann zum einen das “humoristische Sammelsurium [...] von Anekdoten mit seriösem Unterton, den wirklichen Ursprüngen des Mannes [Fellini] (in Interviews mit all seinen Freunden, Mitarbeitern, Mädchen, usw. […]“[8], welches leider nie erschienen ist. Zum anderen geht es um die Übersetzung und Veröffentlichung einer seiner Vorlesungen über Federico Fellini beim Merkur Verlag. Im Jahr 1974 schreibt er an Hans Paeschke: “Ich kann unmöglich die Übersetzung übernehmen, und meine Bemerkung war nicht kokett gemeint. Die Tatsache ist, dass ich deutsch nicht so beherrsche, als dass ich die notwendigen Nuancen richtig übertragen könnte.“ Es wäre eine “Riesenanstrengung“, sagt Bachmann, unmöglich aufgrund sprachlicher Barrieren und einem zu hohen Zeitaufwand angesichts seiner Reisen.[9] Ob man hier von Eitelkeit oder von einem identitären Stolz, oder aber von der Ablehnung der deutschen Sprache, wenn nicht gar der deutschen Identität als solcher sprechen kann, bleibt offen. Festhalten lässt sich, dass Bachmann die Außenseiterposition in seinen Kolumnen gerne als Stilmittel nutzt: “Eine Außenseiteransicht zu der Diskussion über die Berliner Filmfestspiele“ lautet die Überschrift eines Beitrags im Tagesspiegel im Jahr 1965. Neben der Beschreibung eines Krisenzustandes der Filmfestivalbranche und der Diskrepanz zwischen Film-Kunst und Film-Unterhaltung, bemängelt Bachmann die “selbstmörderische Tendenz“, die die Selbstkritik des Festivals betrifft, die von der zwangsmäßigen Politisierung Berlins als “Schaufensterstadt des Westens“ ausgeht: „Es vergeht kein Tag, an dem man nicht in der einen oder anderen Zeitung scharfe Attacken findet, die aus schlechten Erfahrungen in den Vorjahren Folgerungen für 1965 ziehen.“ („Berlin kann gerettet werden. Eine Außenseiteransicht zu der Diskussion über die Berliner Filmfestspiele“, Tagesspiegel, 14.03.1965). Dennoch dominiert nicht der Pessimismus in Bachmanns Beitrag, er erschafft eine Zukunftsvision, gar eine Utopie für die Welt des Films: “Berlin kann gerettet werden“ lautet der Titel seines Beitrags. Für die Umstrukturierung der Berlinale brauche es mehr Unabhängigkeit in der Filmauswahl, weniger Konkurrenzprinzip, mehr Austausch und Diskussion und nicht zuletzt eine Umstrukturierung der Auswahlkriterien, sodass die “Annahme eines Films durch Berlin allein schon eine Auszeichnung bedeutete.“ („Berlin kann gerettet werden. Eine Außenseiteransicht zu der Diskussion über die Berliner Filmfestspiele“, Tagesspiegel, 14.03.1965) Besonderes Augenmerk legt Bachmann auf die Abschaffung einer “national geprägten Art der Filmpräsentierung“, die die wichtigste Reform des Filmfestivals wäre – ein Argument, das nicht nur verdeutlicht, wie sehr Kunst und Gesellschaft für Bachmann wechselseitig in Bezug stehen, sondern auch eine antizipatorische Lesart in Bezug auf eine heuchlerisch- ’populistische’ Gegenwart bietet (Pasolini würde vielleicht von “Scheintoleranz“ sprechen), in der Gegen- und minoritäre Kulturen von Filmbranche meist in umgekehrter Proportion zur Art und Weise, wie es in der Politik und Gesellschaft effektiv geschieht, behandelt werden.

Theorie des Films: Bachmann – Kracauer – Pasolini

Neben seinen zahlreichen Artikeln, die Bachmann trotz seines Unwohlseinseins im Umgang mit der deutschen Sprache für die deutschsprachige Presse schrieb, gilt es auch, seine Fotografien zu würdigen. Ein Objekt aus Bachmanns immenser Fotokollektion, welches den Austausch mit den großen Theoretikern des Films bezeugt, ist die Fotografie, die Bachmann zu dem Band Theory of Film (1960) von Siegfried Kracauer beisteuerte. Im Januar, vermutlich im Jahr 1960, schrieb Bachmann an Kracauer:

Dear Dr. Kracauer, last night I heard that you are seeking certain stills; perhaps I can help you, as I have a very large collection. […] P.S.: I have also finally found a laboratory who are able to make excellent prints from film frames at a very reasonable cost; I suspect that many of the scenes you wish may not be available except in the form of snips from actual films.

In die namhaften Quellen des Bandes – darunter das Museum of Modern Art Film Library in New York, das National Film Archive in London und die Cinémathèque française in Paris – reiht sich auch Bachmann ein. In Kracauers Theory of Film findet sich Bachmanns Fotografie, die eine Szene aus dem 1951 erschienenen Film The Medium, von Regisseur Gian Carlo Menotti zeigt.

 

Abb. 2. Abbildung in Kracauers Theory of film (1960) aus Bachmanns Fotoarchiv.

 

Doch die Vermittlung und Beratung hinsichtlich der Fotografien ist nicht alles: Bachmann und seine Artikel seiner eigenen Zeitschrift Cinemages werden mehrmals zitiert, unter anderem seine Ausgabe zu Luis Bunuel (1954)[10], die Ausgabe über den polnisch-französischen Filmregisseurs Jean Epstein (1955)[11], sowie auch seine Interviews mit Federico Fellini.[12] Der Briefwechsel sowie auch die Beteiligung Kracauers an den Ausgaben von Cinemages lassen Bachmann im Gegensatz zu seiner oft nonchalanten, direkten Ausdrucksweise noch stärker in der Position eines Filmtheoretikers erscheinen. Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern sich eine Kontinuität zwischen den Größen Kracauer und Pasolini in Beziehung zu Bachmann herstellen lässt. Man könnte G ideons Beziehung zu diesen beiden Figuren als eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Medium Film, mit der Interaktion von Regisseur und Rezipient und der Wahrnehmung des Zuschauers sehen, da beide (Pasolini von einem Standpunkt als Filmemacher, Kracauer von einem Standpunkt als Filmtheoretiker) den Film als Möglichkeit sehen, die “originaria e profonda barbarie”[13] darzustellen und den Zuschauer im Film etwas völlig Irreales, losgelöst von der Alltäglichkeit, sehen zu lassen. Während Pasolini in einem Interview mit Bachmann die Surrealität und das Märchenhafte des Films hervorhebt: “In realtà il pubblico, in generale, quando va al cinema, vede nel film qualcosa di totalmente irreale, inventato, come una favola”[14], spricht Kracauer von einem “occhio libero […] capace di redimere la réalta, di riscattarla dal quotidiano […] È un occhio che può liberare il reale dalle forme stereotipate del senso commune, per giungere ad una visione estetica ed estatica.” Ebenso betont er die Kreation einer ekstatischen Vision im Film, die den Rahmen des Alltäglichen sprengt. Sowohl die Ansicht Kracauers als auch die Pasolinis verzeichnen in Bezug auf die Ästhetik des Blicks Parallelen. Bachmann versuchte letztere zu hinterfragen, jedoch ohne Erfolg. Als er Pasolini nämlich im Anschluss auf dessen oben zitierte Äußerung die Frage stellt, ob er Kracauers Teoria del film. La redenzione della realtà fisica (1962) gelesen habe, verneint Pasolini.[15] Stärker ist jedoch seine Reaktion auf Bachmanns Resüme von Kracauers Aussage über die Darstellung von Wirklichkeit im Film, die Pasolini als eine “große Dummheit“ abkanzelt:

Bachmann: Lei ha letto Kracauer, La redenzione della realtà? Dice che la camera fotografa soltanto la pelle delle cose, non fotografa quello che esse significano. Per questo l’invenzione, l’arte e la memoria non hanno posto nel cinema. 

Pasolini : Non l’ho letto, ma quel che mi dice è una grande stupidaggine. Non è vero che il cinema fotografi l’aspetto bruto delle cose, perché nel cinema è possibile fare un discorso libero indiretto ovvero mostrare le cose non come le vede l’autore, ossia l’obiettivo, ma come le vede un altro. […] Mi metto nei panni di una matta e fotografo tutto come se fosse lei a vederlo. Questo significa che non fotografo affatto la pelle delle cose, fotografo la loro sostanza.[16]

Pasolini entgegnet, dass die Kamera genau das Gegenteil dessen tut, was Kracauer sagt, die Kamera zeige nicht nur die Haut, sondern die Substanz der Dinge. Nichtsdestotrotz belegt die Nachfrage Bachmanns Versuch, die beiden in Beziehung zu setzen, bzw. einen Dialog über Filmästhetik zu stimulieren, anstatt nur jemand zu sein, der Fragen stellt.[17]

“[E]ine Art happy-go-lucky Fatalismus” – Bachmanns Blick auf die Gesellschaft. Bellocchio – Bertolucci – Rosi

“Denn im heutigen Italien sind das Gute und das Böse nicht mehr so einfach zu identifizieren“ („’Cadaveri Eccellenti’ – Francesco Rosi und die Politik“, NZZ, 30.04.1976), schreibt Bachmann in einem Artikel, in welchem er über den italienischen Regisseur Francesco Rosi und die Art und Weise, Film und Politik miteinander in Beziehung zu setzen, berichtet. Bachmann setzt Film und aktuelle Politik immer wieder miteinander in Beziehung und bezieht dabei eine kritische Position gegenüber einem Italien, in dem die Ausweglosigkeit dominiert und Filme wie Bellocchios I pugni in Tasca und Bertoluccis Prima della rivoluzione, eine, wie Bachmann mit Pasolini sagt, “Alternative zur seelischen Verkümmerung“ schaffen[18] (“Poesie und Prosa und das Gewissen - Neue italienische Filmregisseure suchen Wege zur Jugend“, NZZ, 6.05.1966). Der Film ist in seiner Analyse für Bachmann zugleich poetisches als auch politisches Objekt.[19] Während er den Erfolg des Films L’ultimo Tango a Parigi von Bertolucci rühmt und das avantgardistische Verschmelzen von Kunst und Leben, in diesem Fall Film und Leben, hervorhebt (“Aber für ihn, für Bertolucci, sei Film das ganze Leben, denn keine Filme machen zu können, wäre für ihn wie das Sterben“), so analysiert er auch stets die gesellschaftliche Bedeutung und die Interaktion zwischen dem Regisseur und dem sozialen Kontext: Es sei ihm [Bertolucci] zum Beispiel klargeworden, daß er die Arbeit innerhalb des Industriesystems des Kinos voll akzeptieren müsse, um weiterhin schaffen zu können, denn obwohl er viel lieber in einem anderen kulturellen und politischen System arbeiten würde, gäbe es ja heute noch kein solches.

Andere Systeme existieren nur in der Theorie. Ich muß in diesem System arbeiten, sonst arbeite ich gar nicht. Indem ich das akzeptiere, muß ich auch alles akzeptieren, was das System mir aufzwingt […] (”Der Überraschungs-Erfolg. Bertoluccis Reaktionen auf den ’Tango’-Rummel“, Der Tagesspiegel, 22.04.1973)

Doch nicht nur das italienische Kino wird auf politische Haltungen und soziale Zwänge überprüft. Auch der amerikanische Film und die verschiedenen Strömungen wie die des Underground Cinema, das er zum Gegenstand eines preisgekrönten Dokumentarfilms gemacht hat (Protest – wofür? Tendenzen des amerikanischen Underground-Cinema, 1968), werden von Bachmann im Hinblick auf die gesellschaftliche Indifferenz des Einzelnen kritisiert:

Dabei sind die Regisseure des ‘Underground Cinema’ heute vielleicht die für das intellektuelle Amerika symptomatischsten: in einer Zeit, in der die Gesellschaft dem Einzelnen keine Kampfziele bietet, richtet sich der Drang, das Imperfekte zu ändern, ins Leere. (”Ist das ‚neue amerikanische Kino’ noch neu? Die Bestandsaufnahme einer Kunstbewegung in den Vereinigten Staaten“, Der Tagesspiegel, 5.12.1965)

Insbesondere die Frage ’Protest wofür’ wird von Bachmann anhand der verschiedenen Stile im amerikanischen und italienischen Kino problematisiert. Der Protest der Bewegung Underground Cinema sei “immer abstrakter geworden“ und würde sich “oft gegen alles, was dem Film in seiner Geschichte zu einer einheitlichen Form verholfen hat“ richten. Am schlimmsten sei, dass es sich um einen Protest handele, der sich “gegen jede Filmästhetik außer derjenigen des Umsturzes“ richte, und zwar “in einer Zeit, in der die Gesellschaft“, wie im oben zitierten Text zu lesen ist, „dem Einzelnen keine Kampfziele bietet“. Anstelle eines­ – so charakterisiert Bellocchio seinen Protagonisten in I pugni in Tasca – “nutzlosen Unbewusstseins“ trüge die Strömung des “engagierten Realismus“, wie ihn Bachmann nennt, wozu er unter anderem Regisseure wie Pasolini, Olmi, Bellocchio und Bertolucci zählt, dazu bei, gesellschaftliche Ausweglosigkeit auf die Leinwand, bzw. ins Bewusstsein des Zuschauers zu bringen. Es gehe beim Kino nicht darum, einen moralistischen Blick auf die Dinge zu werfen, so wie Bachmann über Francesco Rosis politischen Film sagt: “Rosi will weder lehren noch politische Dokumente herstellen, denn er sei kein Politiker und vertrete nicht die Ideen einer politischen Partei“ („Die Mafia als Metapher. Gespräch mit dem italienischen Regisseur Francesco Rosi“, Der Tagesspiegel, 16.05.1976). Es gehe vielmehr darum, etwas “vor der Kamera ’passieren’ zu lassen“.

Bei Bertolucci wiederum ginge es darum, einen “Film nicht durch die Pforten der Logik, sondern direkt ins Gefühl des Zuschauers“ („Poesie und Prosa und das Gewissen. Neue italienische Filmregisseure suchen Wege zur Jugend“, NZZ, 06.05.1966) zu transponieren.

 

Abb. 3. Szene aus Bertoluccis "Prima della rivoluzione" (1964) in Bachmanns Artikel für die NZZ, 6.5.1966

Aber ich identifiziere mich mit meiner Arbeit, und durch sie nehme ich meinen Platz in der Gesellschaft ein. (”Die Mafia als Metapher. Gespräch mit dem italienischen Regisseur Francesco Rosi“, Tagesspiegel, 16.05.1976)

Dieses Zitat von Francesco Rosi ließe sich auch für Bachmann geltend machen, denn er war jemand, der durch die Arbeit versuchte, einen Platz in der Gesellschaft einzunehmen, ohne konkrete nationale Identität, aber ein Individuum mit der unerschöpflichen Lust an der Begegnung und der Hinterfragung des Mediums Film. Bezugnehmend auf die Dreharbeiten von Prima della Rivoluzione (1964) zitiert Bertolucci in einem Gespräch mit Bachmann das spontane Filmen der Szene, in der Schauspieler Allen Midgette versucht, mit dem Fahrrad zu fahren, obwohl er dessen nicht fähig war.

 

 

Bertolucci wusste dies nicht und ließ die Kamera dennoch weiterlaufen, um den schwankenden Schauspieler, der versuchte, irgendwie das Gleichgewicht zu halten, zu filmen. Bachmann zitiert diese Momentaufnahme Bertoluccis in einem Artikel in der NZZ:

Ich merkte sofort und hätte von mir aus nie daran gedacht, so etwas zu inszenieren, dass dieses kopflose Allesversuchen, dieser blinde, nutzlose Versuch, etwas Ungelerntes auf Anhieb zu bewältigen, mehr als jede Inszenierung dem Wesen dieses jungen Mannes entsprach: einer Art happy-go-lucky-Fatalismus, seiner achselzuckenden Akzeptation der Ausweglosigkeit seines Geschicks. (”Poesie und Prosa und das Gewissen - Neue italienische Filmregisseure suchen Wege zur Jugend“, NZZ, 6.05.1966)

Vielleicht ist es genau dieser von Bertolucci bezeichnete ’happy-go-lucky-Fatalismus’, die auch Gideon Bachmanns Arbeit poetologisch definiert und ihn nicht nur zu einem wichtigen Zeitzeugen der italienischen sowie internationalen Filmkultur, sondern vor allem zu einer besonderen Vermittlerfigur dieser in das ’deutsche Ausland’ machten.

Literaturverzeichnis

Bachmann, Gideon, ”Die Mafia als Metapher. Gespräch mit dem italienischen Regisseur Francesco Rosi“, in Der Tagesspiegel, 16.05.1976.

- , ”Cadaveri Eccellenti - Francesco Rosi und die Politik“, in Neue Zürcher Zeitung, 30.04.1976.

- , ”Sodom oder das stilisierte Grauen. In dieser Woche wird vorerst nur in Deutschland der Film Salò erstaufgeführt“, in Die Zeit, 30.01.1976.

- , ”Hochtouren oder Leerlauf? Erhöhte Filmproduktion in Italien“, in Neue Zürcher Zeitung, 22.08.1975.

- , ”Der Überraschungs-Erfolg. Bertoluccis Reaktionen auf den ‚Tango’-Rummel“, in Der Tagesspiegel, 22.04.1973.

- , ”Römischer Schulbub. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Maccello Mastroianni“, in Der Tagesspiegel, 30.04.1967.

- , ”Poesie und Prosa und das Gewissen - Neue italienische Filmregisseure suchen Wege zur Jugend“, in Neue Zürcher Zeitung, 6.05.1966.

- , ”Ist das ‚neue amerikanische Kino’ noch neu? Die Bestandsaufnahme einer Kunstbewegung in den Vereinigten Staaten“, in Der Tagesspiegel, 5.12.1965.

- , ”Traumwirklichkeit, Mythologie und Psychoanalyse Fellinis Giulietta degli Spiriti“, in Neue Zürcher Zeitung, 18.06.1965.

- , ”Berlin kann gerettet werden. Eine Außenseiteransicht zu der Diskussion über die Berliner Filmfestspiele“, in Der Tagesspiegel, 14.03.1965.

- (1959), Federico Fellini: an interview, in Robert Hughes (Hrsg.), Film: Book I: The audience and the filmmaker, New York.

- (1958), The Film as Art – Lecture, https://archive.org/details/cmapr0286.

- (1955), “Jean Epstein, 1897-1953”, Cinemages, n. 2, New York.

- (1954), ”The films of Luis Buñuel“, Cinemages, n.1, New York.

Bernardi, Sandro (1994): Introduzione alla retorica del cinema. Storia dello spettacolo, Florenz: Le Lettere.

Grieveson, Lee/ Wasson, Haidee (Hrsg.) (2008), Inventing Film Studies. Durham/London: Duke University Press.

Naldini, Nico, Breve vita di Pasolini, Parma: Guanda, 2009.

Pasolini, Pier Paolo, Polemica, politica, potere. Conversazioni con Gideon Bachmann, hrsg. v. R. Costantini, Milano: Chiarelettere, 2015.

   

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Foto: © Marie Falke