Zur Interferenz von narrativen und dramatischen Verfahren in Dantes Commedia

Die Commedia als dramatischer Stationenweg und die Theatralität der mittelalterlichen Kultur

Die einzelnen Stationen des Weges bieten Anlass zu exemplarischen Begegnungen mit einigen der am jeweiligen Jenseitsort angesiedelten Seelen. Diese Begegnungen haben u.a. die Funktion, ‘Dante’ in die Logik der Jenseitswelt einzuweihen und ihm Wissen über die Schöpfung zu vermitteln. So heißt es programmatisch in Inf. III, 21: “mi mise dentro a le segrete cose”.[5] Dieses Wissen wird in dialogischer Form vermittelt, d.h. der Stationenweg vollzieht sich als eine Abfolge von Szenen im Sinne von Gérard Genette, dem zufolge eine Szene in einem narrativen Text gekennzeichnet ist durch zeitdeckendes Erzählen, was in der Regel idealtypisch durch Figurenrede realisiert werden kann (Genette 1972, 141ss.). Der szenische Charakter der einzelnen Stationen ist einerseits durch die erwähnte ausführliche Figurenrede gekennzeichnet, andererseits auch durch die Beschreibung des jeweiligen Ortes und der damit verbundenen Strafen oder Bußen in der Hölle und im Läuterungsberg. Die Beschreibung des Jenseits als einer Welt des göttlichen Gerichts, welches die Sünder mit ewigen Qualen in großer Mannigfaltigkeit bestraft und ebenso die Büßenden dem Erfindungsreichtum der Gerichtsbarkeit aussetzt, schließlich aber die Seligkeit der Paradiesbewohner mit theologischer Fundierung gestaltet, erfolgt somit in großer visueller Konkretheit und Anschaulichkeit, ja man kann sagen Körperlichkeit. Das Szenische der Divina Commedia, die eigentlich basal ein narrativer Text ist, wird somit realisiert als tendenziell zeitdeckendes Erzählen in Form von Dialogen sowie als eine Serie von anschaulichen Orts-, Zustands- und Personenbeschreibungen, die das Schicksal der dem göttlichen Gericht unterworfenen Seelen plastisch und teilweise sehr drastisch vor Augen stellen.

In der Forschung hat man immer wieder von der dramatischen Qualität der Divina Commedia gesprochen. So schreibt Attilio Momigliano in seinem Dante-Kommentar: “negli incontri abituali fra Dante e un dannato l’ingegno del poeta rimane eminentemente drammatico […]; i personaggi non sono descritti ma subito mossi […]; il loro ritratto vien fuori dalle loro parole.” (Momigliano 1957, 59) Auch Natalino Sapegno spricht von der dramatischen Qualität des Textes: “L’idea poetica, l’invenzione narrativa, la tecnica drammatica, che caratterizzano il poema, nascono ad un parto, inscindibili […].” (Alighieri 1985, 3) Francis Fergusson schreibt in Bezug auf die Verlaufsform des Dante’schen Textes: “This developing form may be called dramatic, for it closely reflects, or imitates, the movements of the Pilgrim’s growing and groping spirit.” (Fergusson 1953, 43) Franco Masciandro hat eine Monographie zum Thema Dante as Dramatist vorgelegt, in der er sich vornimmt, Dantes Interpretation des Mythos vom irdischen Paradies im Hinblick auf die dramatische Qualität der Darstellung zu untersuchen. Es geht ihm darum, “to analyze Dante’s dramaturgy, especially the creative force of the ‘tragic rhythm’ that the scenes under scrutiny produce as they succeed each other”. (Masciandaro 1991, xiii s.) Der Begriff “dramatic/drammatico” wird in diesen Zitaten nicht immer im streng technischen Sinne verwendet, sondern teilweise auch im Sinne einer inhaltlichen Qualität. So bezieht sich das Zitat von Sapegno auf den unmittelbaren Beginn der Commedia, wo ja noch keine Figurenrede verwendet wird und mithin im technischen Sinn keine dramatische Darstellung vorliegt.[6] Dennoch ist es nicht falsch zu sagen, dass Dantes Darstellungsweise im weitesten Sinne dramatisch ist, insofern er mit Verdichtungen, Unmittelbarkeit, starker Bildlichkeit und jähen Umschwüngen sowie starken Kontrasten arbeitet. Ein wichtiges Stilmittel, welches den Eindruck des Szenisch-Dramatischen erzeugt, ist, wie Paolo De Ventura gezeigt hat, die häufige Verwendung deiktischer Elemente.[7]

Bezieht man diese bei Dante zu beobachtende Verschränkung des narrativen und des szenischen Darstellungsmodus auf die mittelalterliche Kultur insgesamt, erkennt man eine wichtige Gemeinsamkeit. So schreibt Friedemann Kreuder, dass “mittelalterliche gesellschaftliche Praktiken generell als theatral geprägt verstanden bzw. sämtliche ausgestellten sozialen, politischen, kulturellen öffentlichen Tätigkeiten/kommunikativen Produktionen des Mittelalters durchgängig als theatral verfasst gedeutet werden können.” (Kreuder 2008, 284) Solche Theatralität, die alle Bereiche der öffentlichen Kommunikation im Mittelalter prägt, lässt sich unterteilen in christlich-liturgische Theatralität und deren karnevaleske Umkehrung (im Sinne von Bachtin 1990). Diese Theatralität manifestiert sich institutionell etwa in der Osterfeier des 8. und 9. oder im Adamsspiel des 12. Jahrhunderts. Sie wird jedoch, so Kreuder, auch sichtbar bei der Manifestation von Herrschaftsverhältnissen, bei der “praktisch durchgehenden darstellerischen Symbolisierung sozialpolitischen Verhaltens sowie gesellschaftlich-systemischer und lebensweltlicher Beziehungen bis zum 12./13. Jahrhundert” (Kreuder 2008, 285) und nicht zuletzt auch im Rahmen der im Mittelalter sehr weit verbreiteten kirchlichen und liturgischen Feste.

Wenn man nun diese grundlegende Prägung der mittelalterlichen Kultur durch Theatralität und die durch die Bedingungen des Aufschreibesystems[8] vorgegebene dominant orale Rezeptionsform von Literatur zusammensieht, dann ergibt sich im Hinblick auf die Divina Commedia eine hohe Plausibilität für die gattungspoetische Missachtung der Unterscheidung zwischen narrativ und dramatisch. Dann erscheint die von Dante selbst gewählte Gattungsbezeichnung Komödie für einen narrativen Text keineswegs mehr als so befremdlich, wie es aus moderner Sicht (und auch schon für Boccaccio) zunächst den Anschein haben mag.

Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt. Wie die Forschung verschiedentlich schon gezeigt hat, ist Dantes Gedicht auch ein gedächtnisbildender Text, der auf die Verfahren der antiken ars memoriae zurückgreift (vgl. Yates 1966; Weinrich 1984; Ott 1987; De Poli 1999; Klinkert 2007). Die Gedächtnisbildung erfolgt in dieser Tradition durch einen imaginären, häufig innerhalb von Gebäuden angesiedelten Raum, den der Redner mit sogenannten imagines, Gedächtnisbildern, ausstattet und dann in Gedanken durchschreitet, um diese Gedächtnisbilder abzurufen und in seiner Rede zu verwenden. Analog funktioniert die Divina Commedia, die ebenfalls einen konkret zu durchschreitenden Raum vor Augen führt. An diesem Raum befinden sich so genannte imagines agentes, d.h. besonders einprägsame Bilder, die eine Sünde oder eine Station des Jenseitsreiches eindringlich illustrieren und dadurch erinnerbar machen, sodass man, wie Frances A. Yates als erste erkannt hat, das Dante’sche Jenseits als Gedächtnisraum verstehen kann (Yates 1966, 95). Dies wiederum ist zu beziehen auf eine in der mittelalterlichen Kultur allgegenwärtige Form der Gedächtnisbildung, nämlich die Stationen der Prozession, des Kreuzwegs, der Pilgerfahrt, also Formen religiöser Praxis. Diese religiöse Praxis ist ihrerseits Teil der allumfassenden Theatralisierung der Kultur, wie sich u.a. anhand des geistlichen Spiels und der ihm zur Verfügung stehenden Simultanbühne zeigen lässt.[9] Das aber bedeutet, dass die Divina Commedia bei aller Singularität ihrer Textstruktur doch auch zu situieren ist vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Kultur, in der verschiedene Aspekte von Ritual und Performanz in der Kommunikation zusammenwirken. Dante bedient sich dieser Traditionen und Praktiken und verdichtet sie auf unerhörte poetische Art und Weise. Indem er sich in die Tradition einschreibt, überschreitet er sie zugleich. Im Folgenden möchte ich anhand einiger Beispielanalysen herausarbeiten, wie sich in der Commedia dramatische und narrative Darstellungsweise miteinander verbinden und welche zum Teil verstörenden Bedeutungseffekte daraus resultieren.

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