Zur dritten Ausgabe von lettere aperte. Aus den cross sections der Italienischen Literatur

lettere aperte ist in dieser Ausgabe also nicht selbst Ort versuchter Innovation, sondern vielmehr Kanal der Vermittlung (oder Dissemination). Diese besondere, aber hoffentlich nicht einmalige Form der Ausgabe kaschiert keine konzeptuelle Verlegenheit seitens der Herausgeber. Mit ihr wird vielmehr ein Versprechen, das von Anfang an zu den wesentlichen Herausforderungen des Projekts zählte, endlich eingelöst: die Förderung eines Austausches zwischen den Forschungstraditionen und -standorten, insbesondere dies- und jenseits der Alpen, und zwar im Hinblick auf ein gemeinsames italianistisches Interesse. Besteht auch (oder gerade) in Zeiten geistig-wissenschaftlicher Mobilität eine Tendenz zur Isolierung der Diskurse, so liegt in der hier vorliegenden Ausgabe eine Gelegenheit vor, diese – wie es im Text zur Idee von lettere aperte heißt – «miteinander in Dialog zu bringen».

Dazu taugt nicht zuletzt das hier behandelte Thema, das zur vorliegenden Ausgabe, zumal oberflächlich betrachtet, im Verhältnis einer mise en abyme steht: Die hier versammelten Fallstudien zu versuchten Importen deutschsprachiger Elemente ins literarische System Italiens bilden tatsächlich selbst den Gegenstand eines Transferversuchs. Und genau wie die in den Fallstudien genannten Akteure, treten wir als Herausgeber mit den Autor*innen als „nouveaux entrants“ unter unterschiedlichen Vorzeichen in einen strategischen Verbund mit dem Anspruch, neue methodische Standards zu setzen und damit einen autonomen Platz in den jeweiligen wissenschaftlichen oder wissenschaftlich-editorialen Kontexten zu erobern...

So formuliert, das heißt in einer banalisiert „feldtheoretischen“ Darstellung erschiene die dritte Ausgabe von lettere aperte im Licht einer rein taktisch motivierten Operation. Dass diese ihren Anlass aber primär in der Überzeugung vom wissenschaftlich schöpferischen Wert des Projekts um Anna Baldini, Irene Fantappiè und Michele Sisto findet, erklärt sich von selbst. Das Format von Storia e mappe digitali della letteratura tedesca in Italia nel Novecento entspricht in verschiedener Hinsicht den programmatischen Ansprüchen von lettere aperte. Entscheidend hierbei ist zunächst die methodische Originalität.

In den Arbeiten der fünf Autor*innen werden traditionell historisch-philologische Grundlagen mit literatursoziologischen (Bourdieu) und neostrukturalistischen (Even-Zohar) Ansätzen kombiniert. Was dabei herauskommt, könnte man bis zu einem gewissen Grad als den Versuch einer totalen Kritik beschreiben – einer Kritik, in der traditionell heuristische Unterscheidungen zwischen Außen und Innen, zwischen Geschichte (Kontext) und Literatur (Text), zwischen Autor und Werk, zwischen Individuum und Gesellschaft als idealistisch verworfen bzw. im Glauben an deren komplex wechselseitige Dynamik – entsprechend dem relationalen Prinzip von Bourdieus Modell – gleichzeitig berücksichtigt werden.[5] Die Alternative, die im Titel von Barthes berüchtigtem Aufsatz Histoire ou littérature anklingt,[6] wird hier zu Gunsten einer pragmatischen Synthese zwischen extrinsischer und intrinsischer Herangehensweise ignoriert.

Natürlich bleibt der Anteil, der den unterschiedlichen Perspektiven in den jeweiligen Studien zufällt, unterschiedlich ausgeprägt. Als dominant erweist sich eindeutig die textexterne Perspektive, insbesondere das Interesse für die verlagsgeschichtlichen Faktoren der Entstehung literarischer Tendenzen und für deren allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Neigen dabei einige Beiträge eher zur abstrakten Synthese und liefern mögliche Begriffe zur Beschreibung literarischer und/ oder historisch-gesellschaftlicher Prozesse, so bestechen andere dadurch, Probleme und Erkenntnisse in Form lebendiger Nacherzählungen zu verarbeiten (zutreffen tut dies vor allem auf Daria Biagis kurzweilige «Geschichte» rund um die Übersetzung des Willhelm Meister, in welcher Personen wie Slataper, Spaini und Pisaneschi tatsächlich wie «Protagonisten» anmuten; aber auch auf Stefania De Lucias anekdotenreiche Schilderung der Umstände, unter denen der zunächst germanophobe Prezzolini zum Übersetzer deutscher Mystiker heranwächst). So oder so gewähren die Autor*innen der hier veröffentlichten Studien detailreiche Einblicke in die konkreten mikro-geschichtlichen Wirren, in die magmatischen Prozesse nicht immer glücklichen Ausgangs, in welche die Literatur des primo Novecento genauso wie ihre rastlosen, heute manchmal komplett vergessenen Mitwirkenden (Italo Tavolato genauso wie auch andere triestiner «intellettuali di frontiera») verwickelt sind. Die Beiträge erinnern uns an die realen Voraussetzungen, unter denen diese Literatur rezipiert, verhandelt, verarbeitet, produziert wird – bevor sie sich wiederum als symbolischer Teil des gesellschaftlichen Makrokosmos im Italien der Zwischenkriegszeit und später in unseren Nachschlagewerken etabliert.

Damit wird hier ein wesentlicher Beitrag, nicht nur zur Erweiterung positiven Wissens, sondern auch zur Entmystifizierung von nach wie vor wirksamen Glaubenssätzen und Begriffen der Literaturgeschichte geleistet (vgl. beispielsweise die einleitenden Paragraphen im Aufsatz von Baldini oder die Beobachtungen von Fantappiè zum nie unidirektional-kausalen Verhältnis zwischen dem Teil [z. B. Autor] und dem Ganzen [z. B. literarisches Feld]). Was den Autor*innen bereits im Hinblick auf die Nachkriegsperiode gelungen ist,[7] nämlich eine grundlegende In-Frage-Stellung und Erneuerung der historischen Perspektive auf die italienische und die deutsche Literatur bzw. deren systemische Wechselwirkungen, das setzen sie hier fort. Naive Erklärungsmodelle wie das Ursachen-Wirkungsprinzip oder «essentialistische» Kategorien (wie «Expressionismus» oder «Modernismus»), die wir unseren Baedeckern als in re motivierte Tatsachen entnehmen, werden hier dekonstruiert und ersetzt mit komplexeren Formeln, die der gesellschaftlichen, manchmal auch nur (zwischen-)menschlichen Wirklichkeit der Entstehung von Literatur eher Rechnung tragen – wohl bemerkt, ohne dabei deterministischen Versuchungen stattzugeben. Die hier versammelten Fallstudien repräsentieren somit eine originelle Fortsetzung der von Hans Robert Jauss antizipierten[8] und von Bourdieu unter anderen Vorzeichen weitergeführten Anstrengungen, die Geschichte der Literatur zu ent-idealisieren; dieser, mit Marx gesprochen, ihren «rührend-sentimentalen Schleier abzureißen»,[9] um sie, genau wie letzterer (nur mit erneuerten konzeptuellen Instrumenten [10]), in ihrer tatsächlichen, ökonomischen, gesellschaftlich kompetitiven Dimension zu verstehen.

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